Gsüün, Zwillinge. Eine Laune der Natur
Barbara Davatz
Barbara Davatz hat 2001 12 Familien aus der Region Zürcher Oberland porträtiert; auf 77 Farbfotografien 35 x 50cm sind 93 Frauen, Männer, Jugendliche und Kinder abgebildet, in Familienreihen von 2 bis 13 Bildern geordnet.
“Gsüün”, bezeichnet laut dem “Schweizerischem Idiotikon” (Dialektwörterbuch) einen bestimmten, ererbten Familien- oder Volks- typus, meint aber auch Angesicht, Antlitz oder Gesichtsausdruck. Der Begriff ist da und dort noch zu hören.
Es ist eine visuelle Forschungsarbeit entstanden, die sich mit familiären Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, mit der Weitergabe von physiognomischen Merkmalen und physischen Eigenschaften innerhalb eines Familienstammes beschäftigt. Dieser Arbeit liegt aber auch, weniger augenfällig, ein tiefer liegendes Thema zugrunde: Der Gang der Generationen, der Fluss des Lebens.
Die Menschen wurden in strenger Frontalität vor hellgrauem Hintergrund im Studio fotografiert, aus ihrer Umgebung “heraus- geschält”, damit nichts mehr von der Gestalt und deren Botschaften ablenkt. Die Figuren treten so in einer Klarheit und Konzentriertheit in Erscheinung. Die objektiv abgebildete Realität kann so ihre volle Faszination und Intensität entfalten; die schlichte Art der Aufnahme erlaubt es den Menschen sich selbst “darzustellen”.
Einer naturwissenschaftlichen Sammlung nicht unähnlich, erlaubt diese auf das Wesentliche konzentrierte Darstellung das “morphologische Studium”, das neugierige und präzise Betrachten der einzelnen Gestalten mit ihren Bezügen untereinander.
Zwillinge. Eine Laune der Natur
Die Fotografin beschäftigt sich in der 52 Zwillingspaare umfassenden Serie von 1982 mit der Frage der Einmaligkeit der Individuen, am Beispiel von Menschenpaaren, die mit dem absolut identischen “Lebenscode” geboren werden. Im Laufe der Arbeit machte die Fotografin die Beobachtung, dass diese “Doppelwesen” ein leibhaftiges “Alter Ego” als Lebensbegleiter haben, und eine sehr starke, tiefe und beständige Beziehung, die sie vermutlich davor bewahrt sich in dem Masse als Individuen in der Welt “allein” oder “einsam” zu fühlen wie wir Nicht-Zwillinge.
Vor dem Hintergrund neuester gentechnologischer Forschungen, die die “letzten Geheimnisse” des menschlichen Lebens zu entschlüsseln versuchen, weisen beide Arbeiten eine aktuelle Komponente auf.
“Gsüün” und “Zwillinge. Eine Laune der Natur” reihen sich an andere konzeptuelle Porträt-Serien der Fotografin, getragen von
einer fast naturwissenschaftlichen Schaulust, dem Vertrauen auf die elementare Ausdruckskraft der Dargestellten und dem enzyklopädischen Ansatz, einer Liebe zum Sichtbaren, einer Faszination an der physischen Erscheinung, und der Beschäftigung mit den Fragen der Identität sowie der Zugehörigkeit zum einzelnen anderen und zur Gruppe.