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Journées photographiques de Bienne, 3.–26.5.2024

Illustrierte Menschen
Reto Camenisch

Es gibt nichts Bindenderes als ein Tattoo. Von allem kannst du dich trennen, alles kannst du verlieren, dein Tattoo bleibt dir, sofern du es nicht für teures Geld weglaserst, ein Leben lang. Und doch kommen oft Leute ins Atelier und wollen, was alle anderen haben. Irgendein lässiges Müsterli, das grade in ist. Oder sagen: Mach doch einfach etwas, du machst das schon recht.

Abschieben von Verantwortung nennt die Tätowiererin das, wenn jemand sie oder die Mode entscheiden lassen will, was er lebenslänglich auf der Haut tragen wird. Unreif und respektlos. Mit dem eigenen Wesen müsste das Motiv doch zu tun haben, mit dem persönlichen Bewusstsein, der Biografie. Es braucht ja nicht gleich ein buntes Erinnerungsalbum zu werden wie bei jenen wandelnden Gemäldegalerien, die vielleicht einmal klein angefangen haben und dann mit Bildersammeln gar nicht aufhören mögen, bis kein Hautfleck am Körper mehr weiss ist und der Schutzmantel perfekt, auf dass sie sich nie mehr so nackt fühlen müssen wie bei der Vertreibung aus dem Paradies. Wer indes gleich mit einem grossflächigen Motiv beginnt, hat sich meist intensiv mit dem Wie, Warum, Woher und Wohin beschäftigt. Lässt sich von der ornamentalen Ästhetik eines Schwarz-Tattoos auch nicht unbedingt verführen, es einfach als Schmuck zur Schau zu tragen. Mag es sogar eher an Stellen applizieren lassen, wo es normalerweise Kleider verbergen, und trägt es dort mit sich wie einen geheimen Schatz. Denn seine Bedeutung reicht weit über die blosse Zierde hinaus. Als verschlüsselte Botschaft aus dem gemeinsamen Urgrund der Menschheit verbindet es das eigene Dasein mit jenen fernen Welten, wo Tätowierungen von jeher echte Initiationsriten sind.
Margret Mellert, aus der Reportage über die Arbeit der Tätowiererin Jacqueline Spoerle, Neue Zürcher Zeitung vom 25./26.5.2002