Libuna
Iren Stehli
Während 27 Jahren hat Iren Stehli die in Prag lebende Zigeunerin Libuna und ihre Familie mit ihrer Kleinbildkamera begleitet.
Zu Beginn ihrer Auseinandersetzung mit Fotografie hat Iren Stehli in Libuna Sivakova nicht nur eine Freundin, sondern auch ein Thema gefunden. In neugieriger Zurückhaltung ist sie den Besonderheiten einer ebenso unvertrauten wie faszinierenden Existenz nachgegangen. Was sie daran bewunderte, zeigen ihre Aufnahmen in überzeugender, weil vielschichtiger und nie überrumpelnder Anschaulichkeit: Wärme, Zähigkeit, Überlebenswille, Erotik, Kampf, das Bedürfnis nach Schönheit, Verspieltheit, Solidarität. Nahezu unmerklich hat sich solche Schilderung jedoch im Laufe der Zeit zu einer existenziellen Aufgabe verdichtet: zur Suche nach der Essenz des Lebens.
Das offene Geheimnis dieser Suche besteht darin, dass sie jedes Pathos vermeidet. Auch dann, wenn es um grosse Gefühle geht, und um jene menschlichen Kräfte, die imstande sind, Werte zu setzen: Glaube, Liebe, Hoffnung.
Wesentlich ist dabei, dass Iren Stehli ihre fotografischen Ansprüche uneingeschränkt in den Dienst solcher Eindringlichkeit stellt. Keine ihrer Aufnahmen läuft Gefahr eitler Autorschaft. Im Gegenteil: Iren Stehli diszipliniert ihre lakonische Warmherzigkeit, ihren Sinn für auch queren Humor und ihren bildgestalterischen Reichtum bewusst und konsequent, um die Nähe und Offenheit der erzählerischen Situation nicht zu gefährden. Auf solche Weise entsteht der Eindruck einer beiläufigen, ja selbstverständlichen Unmittelbarkeit, die indessen das Resultat einer künstlerischen und fotografischen Position ist.
Martin Heller, Auszug aus dem Text zum Buch «Libuna. Das Leben einer Zigeunerin in Prag», Scalo 2005