Schon der Titel der Serie weist auf die Kontinuität in Alexander Odermatts Arbeiten hin. Bisher entstanden unter dem Titel “System Research” vier Serien, in deren Zentrum die Problematik der Politik der Migrationsbewegungen steht. In “System Research #1 Oder / Neisse” (2003) und “System Research #3 Bodycount” (2005) interessiert sich der Künstler für illegale Migrationsströme ins Schengengebiet, an den Grenzen zwischen Deutschland, Tschechien und Polen. Mit dokumentarischem Blick beobachtet der Künstler in “System Research #4 Maroc” (2005-2007) den Alltag der Migranten aus dem südlichen Saharagebiet, vor allem in der Durchgangszone zwischen Marokko und Spanien. Die hier gezeigte Serie heisst “System Research #2 Intimacy “. Auf den ersten Blick erzeugen diese Bilder Verwirrung; unvermeidlich erinnern sie durch eine nahe, frontale und vertikale Fokussierung und durch den neutralen Hintergrund an das Genre des Porträts. Gleichzeitig werden diese Bilder ihres Hauptelements beraubt, ihres Subjektes. Was bleibt, sind Gegenstände und das Dekor. Fast geraten wir in die Versuchung, darin Porträts zu sehen, in denen Dinge Attribute sind und das fehlende Subjekt andeuten. Schnell werden wir uns aber bewusst, dass die Auslassung des Subjektes eine Stilübung ist, welche die dramatische Spannung im Bild unterstreicht.
Die Fokussierung des Blicks auf die Nachttische eines Zentrums für Asylsuchende gewährt Einblick in die Intimität der Migranten. Diese Intimität in den kühlen Schlafräumen spiegelt sich in wenigen persönlichen Gegenständen wieder. Eine Haarbürste, ein heiliges Buch, eine Wasserflasche, Ikonen, Essen, Zahnpasta, das ganze Hab und Gut muss auf einem Nachttisch Platz haben. Durch die Abwesenheit des Subjektes setzt der Fotograf den Akzent auf die Natur der Sache, die in seiner Arbeit als Ausdruck der “ Condition Humaine “, der Kultur und der Identität fungiert: die Hygiene das Essen, die Religion und der Wille, sich anzupassen. Die kleine Anzahl der persönlichen Sachen weist zudem auf alles hin, was fehlt, was im Herkunftsland verlassen werden musste oder verloren ging, und zwar sowohl betreffend materieller wie auch immaterieller Werte. Doch diese Objekte stehen eher zufällig im Zentrum der Aufmerksamkeit und bringen so die Abwesenheit viel stärker zum Ausdruck. Indem Alexander Odermatt die Komposition ihres Hauptelementes beraubt, gelingt es ihm, unser Interesse auf das Individuum und sein Leben als Asylsuchender zu ziehen. Dieser bleibt unsichtbar, weil er sich versteckt und weil er nicht der Norm entspricht, aber vor allem, weil wir ihn nicht sehen wollen, so wie er auch in den Augen der Grenzwache und des Gesetzes nicht existiert. So drückt der Künstler die Schwierigkeit des Seins, des Existierens, des Auslebens der eigenen Identität in Übergangssituationen wie der Migration aus. Das Dekor der Porträts, wie auch die Gegenstände, verraten die Mittellosigkeit der Asylsuchenden; die Einfachheit des Mobiliars, die Kälte des Metalls, die weissen Wände unterstreichen den formellen und funktionellen Charakter des Ortes, neutral, kalt, provisorisch. Hier lässt man sich nicht nieder. Der minimale Komfort, der den Personen zusteht, lässt keinen Raum für den Ausdruck eigener Identität und Kultur. Dennoch, wenn wir genauer hinschauen, erweisen sich die verblassten Flecken an der Wand, als Reste von Poster und Fotos. Es sind Schriftzüge, die vom menschlichen Reflex zeugen, eine Spur zu hinterlassen, zu sagen, wer man ist, und dass man an diesem Ort vorbei kam; Ausdruck eigener Identität. (Anne Froidevaux)
Herstellungsjahr: 2004