Tagebuch einer Exekution
Fabian Biasio
Huntsville, Texas. Ein verschlafenes Provinznest, das sich kaum unterscheidet von den unzähligen anderen, übers Land verstreuten texanischen Ortschaften ohne Stadtkern und Charme. Doch spätestens, wenn man der 11. Strasse entlang fährt, merkt man, dass diese Stadt merkwürdig ist. Mächtige rote Backsteinmauern ragen in den Himmel: «The Walls Unit», das Zentralgefängnis – eine Tötungsmaschine. 321 Hinrichtungen fanden hier seit der Wiedereinführung der Todesstrafe 1976 in Texas statt. 451 Menschen, darunter 9 Frauen, warten derzeit auf ihre Exekution.
James Colburn wurde am 26. März 2003 im US-Bundesstaat Texas mit der Giftspritze hingerichtet. Er tötete im Jahr 1994 die 55-jährige Peggy Murphy aus seiner Heimatstadt Conroe. Der Ruf nach Vergeltung ist ein gängiges Argument für die Exekution von Mördern — die Familie des Opfers soll Frieden fi nden können. «Auge um Auge» lautet die simple Formel dieser Art von Gerechtigkeit.
Die Exekution wird fotografisch ausgeklammert; es gezeigt wird die Geschichte der persönlichen Tragödie von Tina: Wir sind dabei, wenn sie eine Stunde vor der Exekution das letzte Mal mit ihrem Bruder telefoniert. Oder wenn sie ihn das erste Mal seit fast zehn Jahren berühren darf – eine knappe Stunde nach seinem Tod (Besuchern ist im Texanischen Todestrakt der direkte Körperkontakt zu ihren Angehörigen untersagt).
Die Geschichte «Tagebuch einer Exekution» zeigt, wie die Argumentation «Auge um Auge» eine zweite Opferfamilie schafft. Wir erkennen, dass es kaum möglich ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden: Es gibt Opfer und Täter – doch die Täter können zu Opfern werden und umgekehrt.
Fabian Biasio