Gyoshos – Botinnen aus einem anderen Japan
Andreas Seibert
Von alten Menschen wird bei uns nicht erwartet, dass sie noch arbeiten. Sie sollen nach Möglichkeit ihr Leben geniessen. Frau Kawai aus der Provinz Chiba, die östlich an Tokio angrenzt, ist alt. Sie ist 84. Und sie ist eine «Gyosho». Die beiden japanischen Schriftzeichen für «Gyosho» bedeuten «gehen/fahren» und «handeln/Handel treiben». Man könnte «Gyosho» also mit «Hausiererin» übersetzen.
Jede Woche von Montag bis Freitag bringt Frau Kawai ihr 60 Kilo schweres Bündel mit Gemüse, Früchten und Reisprodukten nach Tokio, um sie dort zu verkaufen. Und dies seit mehr als 60 Jahren. Man könnte meinen, diese harte Arbeit hätte sie verbittert und vergrämt. Aber nein: Frau Kawai ist eine starke, zufriedene und selbstsichere Frau mit stolzer Ausstrahlung. So wie die meisten Gyoshos, die ich angetroffen habe.
1949 fuhren jeden Tag rund 3 000 Gyoshos von Chiba aus nach Tokio. Heute besteht die «Vereinigung Keisei Linie» nur noch aus rund 120 Frauen. Da junge Frauen nicht mehr als Gyoshos arbeiten wollen und das Durchschnittsalter der aktiven Gyoshos bei etwa 70 Jahren liegt, nimmt ihre Zahl rasch ab.
Die hier gezeigten Bilder sind das Resultat einer gut zweijährigen Arbeit. Bevor ich überhaupt erste Bilder machen konnte, musste ich Kontakt zu den Frauen herstellen. Da ihre Vereinigung geschlossen und hierarchisch strukturiert ist, erwies sich dies als nicht ganz einfach. Es brauchte viel Geduld und Verständnis von beiden Seiten. Dann aber erlaubten sie mir, Bilder zu machen, die vor mir noch kein Fotograf aufnehmen durfte.
In gut zehn Jahren wird es die Gyoshos nicht mehr geben. Ich werde weiter versuchen, ihr Vermächtnis fotografi sch festzuhalten, indem ich eine der elementarsten Eigenschaften der Fotografie nutze: die Zeit einzufangen.
Andreas Seibert