«Zapping» ist wahrhaftig ein «work in progress», Frucht einer dreijährigen Arbeit, während der Filmsequenzen gesammelt wurden, die mit der Kamera des Mobiltelefons des Künstlers aufgenommen wurden. Die Tonspur zum Werk wurde vom Fotografen aus fünf TV-Sendern gesampelt und zusammengemixt. Enrique Muñoz García interessiert sich in diese Arbeit für einen intimen Moment aus dem Alltag von uns allen, nämlich für das ungezügelte «Zapping» vor dem TV-Gerät. Er hat sich selbst dabei gefilmt, aber auch Bekannte von überall her, von der Schweiz über Spanien bis nach Chile. Die Intimität der Sequenzen ist insofern «gesteigert», als dass die Protagonisten nackt sind, auf der Haut spiegeln sich die Farben, die der Bildschirm in den Raum wirft. Aus dem Wunsch nach Ästhetizismus und Authentizität hat der Fotograf auch darauf verzichtet, die Bildqualität und -auflösung nachträglich zu manipulieren. Es geht dem Künstler vor allem darum, in der Wirklichkeit magische Momente zu finden. «Zapping» ist, so Enrique Muñoz García, als Porträt einer einzigen Person zu verstehen, die sich aus einer Vielzahl von Individuen zusammensetzt. Wir erleben einen Moment extremer Intimität mit dieser einzigen Einheit – eine Intimität, die angesichts der Einsamkeit, die aus dem Bild spricht, einen Hang zum Tragischen hat. «Zapping» vereint somit die Themen, die den Fotografen in erster Linie beschäftigen: Das zentrale Interesse für die Person, die Intimität, welche die Person umgibt, und der Wille, eine ästhetisch geprägte Wirklichkeit zu schaffen. Wichtig ist auch das Thema Zeit: Das Werk entstand über mehrere Jahre hinweg. Und Enrique Muñoz García zeigt auch die Zeit, die man vor dem TVBildschirm verbringt – ob man sie nun gewinnt oder verliert.
Herstellungsjahr: 2008-2011
Enrique Muñoz García
Eva-Maria Raab interessiert sich für neue Technologien und individuelle und kollektive Darstellungsformen. Sie hat deshalb „Facebookers“ aus der ganzen Welt eingeladen, ihr für das Projekt „YOUNIC / faceBOOK“ eine Kopie des eigenen Profilbilds zu schicken. Anschliessend hat sie 100 Vorlagenbilder (je nachdem männlich oder weiblich) verändert, die aufgeschaltet werden, wenn man kein eigenes Profilbild einsetzt. Die Frage, die sie dabei stellt: Wie individualisiert man ein vorgegebenes Symbol und kehrt damit den Alltag auf den Kopf?faceBook goes Bieler Fototage
Eva-Maria Raab hybridisiert Ihr Portrait nach Art des Facebook-Standardprofils.
- Digitales Profil: 40.- CHF.
- Gedrucktes Profil, handsigniert (21 x 30 cm, c-Print), Unikat: 300.- CHF inkl. Versand.
- Gedrucktes Profil, handsigniert (21 x 30 cm, c-Print), Unikat im handgefertigten Qualitätsholzrahmen mit Passepartout: 600.- CHF inkl. Versand. Zum gedruckten Profilbild erhalten Sie zusätzlich die digitale Version.
Senden Sie Ihr Foto an: info@evamariaraab.com
Eva-Maria Raab (1983, Hollabrunn, AU), artiste pluridisciplinaire autrichienne, vit et travaille entre Vienne et Paris. Diplômée de l’Ecole Nationale Supérieure des Beaux-arts de Paris en 2010, elle a exposé à la dernière Biennale de Lyon ou encore à Melbourne lors d’une résidence d’artiste en 2013.
Herstellungsjahr: 2012
Die Ausstellung Women with Binoculars zeigt im öffentlichen Raum eine ungewöhnliche Auswahl von 7 Magnum-FotografInnen Carolyn Drake, Diana Markosian, Peter Marlow, Martin Parr, Mark Power, Peter van Agtmael und Alex Webb. Die erstmals gezeigte Sammlung wurde vom Kurator Enrique Muñoz García zusammengestellt. Die Bildserie zeigt Frauen mit Ferngläsern beim Beobachten von Sujets ausserhalb des Bildrahmens. Die Präsenz von Ferngläsern neigt dazu, die fotografierten Frauen zu anonymisieren; sie werden gleichzeitig zu Sujets und Akteurinnen des Bildes. Weil die Handlung, das Fernglas auf ein Objekt zu richten und «die Beute» visuell zu verfolgen, an Überwachung und militärische Spionage denken lässt, oder mit anderen Worten, an Handlungen, die eher Männern zugeschrieben werden, lädt uns diese ungewöhnliche Zusammenstellung von Fotos dazu ein, die soziale und politische Rolle der Frau in unseren Vorstellungen zu hinterfragen.
An Answer to Women with Binoculars ist die Antwort von Studierenden des 2. Fachklasse Grafik der Schule für Gestaltung Bern und Biel auf die von Enrique Muñoz García zusammengestellten Bilder. Jede/r Student/in hat, begleitet von ihren Dozenten Dominik Müller und Roland Aellig, eine Arbeit realisiert, die Bezug nimmt auf eines der Bilder. Die Arbeiten werden im Ausstellungsraum der Schule für Gestaltung gezeigt.
Geben auch Sie eine Bild-Antwort auf die Fotos der Ausstellung Women with Binoculars und nehmen Sie an unserem Fotowettbewerb teil, indem Sie Ihr Bild auf Instagram mit dem Hashtag #Womenwithbinocularsbiel19 posten oder es an die folgende Adresse mailen: nermina.serifovic@jouph.ch bis zum 31. Mai. Die GewinnerInnen des Wettbewerbs werden am Sonntag, 1. Juni um 16 Uhr anlässlich der Preisverleihung in der DISPO Halle bekanntgegeben und anschliessend per Post benachrichtigt.
Die derzeitige globale politische und wirtschaftliche Lage zeigt, wie schnell und drastisch sich die Lebensbedingungen der Menschen ändern können. Für KünstlerInnen, die in Konfliktregionen arbeiten, bedeutet dies oft ein Ende der finanziellen Unterstützung, des Zugangs zu Partnern und Netzwerken sowie der Möglichkeiten, ihre Arbeit zu produzieren und zu verbreiten. Im September 2022 wurden VideokünstlerInnen und FilmemacherInnen, die sich in Kriegsgebieten aufhalten, eingeladen, sich an der offenen Ausschreibung What are you working on? zu beteiligen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Arbeit fortzusetzen und sie einem internationalen Publikum vorzustellen.
Im Dezember 2022 wählte eine internationale Jury sieben GewinnerInnen aus:
Ameen Abo Kaseem (Syrien)
Khin Thethtar Latt (Myanmar)
Moe Myat May Zarchi (Myanmar)
Olena Siyatovska (Ukraine)
Simon Mozgovyi & Tabor LTD (Alina Gorlova, Maksym Nakonnechnyi et Yelizaveta Smith) (Ukraine)
Usama Benyaala (Libyen)
Vasyl Lyah (Ukraine)
Mit dem erhaltenen Stipendium haben die VideokünstlerInnen und FilmemacherInnen Werke produziert, die am Bieler Fototage 2023 zum ersten Mal präsentiert wurden. Im Anschluss an die Vorführung fand eine Podiumsdiskussion statt, die sich mit der Frage beschäftigt, wie das künstlerische Schaffen in bewaffneten Konflikten unterstützt werden kann, an dem Anastasia Alexandrova, Projektleiterin bei Artlink, Annette Amberg, Leiterin von Coalmine und Jurymitglied, Sarah Girard, Leiterin und Jurymitglied, Reda Hamdy, Künstler, Kurator und Jurymitglied, Alexandra Talman, Co-Leiterin Cultureloop Network, teilnahmen. Rahel Leupin, Direktorin Artlink, moderierte die Diskussion, die in der Stadtbibliothek Biel stattfand.
Die Ausschreibung wurde von Artlink im Auftrag des Südkulturfonds durchgeführt und wird in Zusammenarbeit mit Partnern realisiert:
Bieler Fototage, www.bielerfototage.ch
Coalmine, Winterthur, www.coalmine.ch
FIT-Festival, Lugano, www.fitfestival.ch
Kaserne Basel, Basel, www.kaserne-basel.ch
Auf den ersten Blick erinnern die Fotografien der Serie “Weekend” an herrliche Landschaften auf Postkarten, die mit ihren lebendigen Farben unsere eigenen Erinnerungen wachrufen. Beim näheren Hinsehen wird der Betrachter vom prächtigen Rahmen und dem geschäftigen Treiben verführt. Bezaubernd und intrigierend wirken die Personen, die nach Harmonie mit sich und der Natur streben. Die Harmonie ist greifbar, die Protagonisten wirken als ob sie posieren würden. Darin liegt der Kern der Arbeit von Oliver Lang, der bewusst gewählte Rahmen mit zufälligen Inszenierungen bespielt. In seinen ausdrucksstarken Bildern beschäftigt sich Lang mit den Fragen um das Gefühl der Zugehörigkeit und der Stelle, die ein Individuum in einer Gemeinschaft einnimmt. So erweckt er beim Betrachter das Gefühl, an einer Wochenendzeremonie mit ihren spezifischen Ritualen teilzunehmen. Oliver Lang interessiert sich für Verhaltensweisen des Menschen in der Freizeit, seine Auffassung der Natur und die Muster, die er reproduziert, wie zum Beispiel das Versammeln in Freizeitanlagen. Diese sind in Langs Werk selbst Mittel der Repräsentation. “Ein Muster, ist eine Denkweise”, sagt der Fotograf. Auf die Motivsuche begibt er sich zuerst ohne sein Material, um anschliessend, meistens am Wochenende, an den Ort zurückzukehren, mit seiner Linhof Technika – der Kamera, die er immer dann benützt, wenn er an seinen persönlichen Projekten arbeitet – ausgerüstet mit einem Stativ und viel Geduld. “Ich suche Orte, Augenblicke, wo etwas entsteht. Für einige Bilder greife ich fast nicht ein, um so zu erreichen, dass man sich fragt, ob es eine Inszenierung ist oder nicht. Das braucht Zeit.” Was resultiert, ist eine erstaunliche Sammlung, gezeichnet durch die Begegnung des Zufalls mit gekonnt organisierter Komposition. Jeder Mensch scheint am richtigen Platz zu sein, als Teil einer Gemeinschaft, in der jeder durch präzise Rituale und Codes in einem etwas schweizerischen, fast perfekten Dekor die kleinen Glücksmomente anstrebt. Die hier gezeigte Serie ist Teil eines grösseren Projektes, das Olivier Lang 1999 angefangen hat und das sich noch über mehrere Sommer erstrecken wird. (Michelle Joyce)
Herstellungsjahr: 1999-
Oliver Lang
Wer wartet, macht dies meist nicht freiwillig. In der Serie Waiting (2006) zeigt Iselin einerseits eine reale Leere (ausgeräumte Aufenthaltssituation), andererseits aber auch eine inhaltliche Leere (Menschen mit leerem Blick). Die Warteräume und -schlaufen symbolisieren individuelle wie auch allgemeine Pattsituationen im Denken, im Handeln und Sein. Die psychische Enge lässt die Menschen verstummen. Der Austausch, gerade in künstlerischer Hinsicht, wie ihn der Schriftsteller Paul Nizon in Der Diskurs in der Enge (1970) einforderte, bleibt aus. Das Warten ist nicht mehr zielgerichtet auf etwas Erfreuliches, Hoffnungsfrohes hin, sondern es ist ein Warten, zu dem man verdammt ist. Im gesenkten Blick, auf den das Scheinwerferlicht fokussiert, kulminiert die Tragik der Situation. Die Ausweglosigkeit in diesen klaustrophobischen Räumen ist noch mehr als eine Metapher, dass das Leben ein Wartesaal sei. Hier wird das Warten schon als Ankündigung der Endstation verstanden. Wie ein unsichtbares Krebsgeschwür bildet es in jedem Winkel der eigenen Befindlichkeit Metastasen. Ernüchterung in Beziehungen, Stillstand in der Kommunikation, verweigerte Perspektiven, nicht mal mehr ein möglicher Konflikt, tabula rasa, das sind die Zutaten für die trostlose Einsamkeit, die uns trotz aller mobiler Geschwätzigkeit gefangen hält. Iselin spiegelt uns in seinen Bildern unseren Zeitgeist; ein häusliches Gemeinwohl, wie es die Serie Domestic Comfort (2005) weissmachen will, ist es bestimmt nicht.
Fritz Franz Vogel
Roland Iselin
Wir befinden uns in den USA. Jeden Morgen spielt sich an den Tankstellen und Autobahnausfahrten dasselbe Schaupiel ab: Taglöhner warten darauf, dass sie von einem Auto abgeholt und an eine Arbeitsstelle gebracht werden. Will man eine reelle Chance haben, muss man schon sehr früh am Morgen bereitstehen und warten. Darauf warten, dass sich einer erbarmt und einen mitnimmt, um eine Arbeit zu verrichten, die lausig bezahlt wird – üblich sind fünf bis zehn Dollar pro Stunde. Die Taglöhner haben keine Papiere, oft stammen sie aus dem Baugewerbe und haben keine andere Möglichkeit als die Taglöhnerei, um ihre Familien durchzubringen. Die vorbeifahrenden Autos und die Stunden gleichen sich. Die Behörden unterbrechen die Routine höchst selten. Dom Smaz hat den Alltag dieser illegalen mexikanischen Einwanderer, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben über die Grenze gekommen sind, Tag für Tag geteilt. In seiner Serie «Wait Workers» zeigt uns der Fotograf Bilder dieser Warterei. Die Ausbeutung von illegal eingewanderten Arbeitskräften ist kein ausschliesslich auf den nordamerikanischen Kontinent beschränktes Phänomen. In der Schweiz sind es in erster Linie aus dem Osten stammende Sans-Papiers, die um die Wagen an den Tankstellen herumstreichen. Der von Dom Smaz bevorzugte Arbeitsbereich ist die Reportage. Ihn interessiert der Alltag, die Zeit, die vergeht, und die Spuren, die beide hinterlassen. In der Serie «Identités Clandestines» (Geheime Identitäten, 2010) hinterfragt der Fotograf die Lebensbedingungen der unzähligen Sans- Papiers, die sich in Lausanne niedergelassen haben. Indem er die charakteristischen Merkmale seiner Modelle verwischt, negiert Dom Smaz die zentralste Funktion des Porträts: das Sujet erkennbar zu machen. Die Gesichtszüge sind undeutlich, in Bewegung – ganz so wie ihre in den Augen des Gesetzes irreguläre Situation.
Herstellungsjahr: 2009
Dom Smaz
Hinter dem Titel «Wait and See» verbirgt sich ein früheres Projekt mit dem Namen «A-venir. Le temps d’être suisse» (1998). Die Arbeit hinterfragte die Beziehung der Eidgenossenschaft zur vergehenden Zeit mittels einer evolutiv ausgerichteten fotografischen Einrichtung, die es dem Künstlerpaar erlaubte, die weit verbreitete Gleichsetzung der Fotografie mit einem einfachen Stillleben auseinanderzudividieren. Die im Museum Neuhaus (Biel) neu aufbereitete Performance setzt lichtempfindliches Fotopapier (schwarz/weiss) und das Licht ins Zentrum, also zwei grundlegende Elemente der Fotografie. Bei dieser Rückkehr zu den Wurzeln, die ein weiterer Ausdruck für die minimalistische Ausrichtung des Fotografenpaares ist, bewirkt die ausgeklügelte Art, wie die Bilder aufgehängt sind, ein Aufleben der Erinnerung an alte Fotopapiere mit unterschiedlichen Gradationen und Qualitäten. Das wird erreicht, indem das Fotopapier dem im Ausstellungsraum vorhandenen Licht ausgesetzt wird. Im subtilen Zusammenspiel mit dem Raum setzt die chromatische Veränderung der Fotopapiere ein: Je nach deren Zusammensetzung und der Art des Lichteinfalls verfärben sich die ebenen Oberflächen mit der Zeit nach dem (Licht-)Zufallsprinzip. Will der Betrachter die progressive Sättigung der Papiere mitverfolgen, muss er sich in Geduld üben und innehalten, um den latenten Prozess zu beobachten – der punktuelle Blick trägt dazu bei, den Vorgang mit Sinn zu füllen. Mit dieser gewagten Inszenierung gelingt es f&d cartier, auf zugleich nachdrückliche und einfache Weise ein Dispositiv zu erstellen, das die gelebte Zeit nachzeichnet. Von der gelebten, vergangenen Zeit zeugen einzig die Exponate, die nun mit abstrakten Nuancen bedeckt sind.
Herstellungsjahr: 2011
F&D Cartier
Menschen und Tiere in Städten oder in freier Natur: Mit ihrer Serie “Und die Tiere…” fängt Stefanie Becker Alltagsszenen ein, die uns mittlerweile entgehen. Die Grenzen zwischen der Natur und den Stadtgebieten scheinen recht klar: auf der einen Seite die unberührte Natur, auf der anderen Seite die von Menschen für Menschen geschaffene Stadt – zwei sehr unterschiedliche Lebensräume. Der Mensch scheint sich der Natur bemächtigt zu haben, indem er die urbanen Gebiete, in denen er sich entfalten kann, geschaffen hat.
In der Serie Und die Tiere… scheint es hingegen so, als ob die Natur ihrerseits die Stadt eingenommen habe; die Natur in ihr gegenwärtig ist, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Die Fotografin sucht Momente, in denen die zwei Welten sich vereinen, und formt so Ideenverbindungen. Das Ganze erwächst zu einer bunten und poetischen Erzählung, welche die zwei Welten auf die gleiche Ebene setzt und so eine gewisse Hierarchie durchbricht. Es entsteht eine Geschichte, die den Unterschied zwischen Mensch und Tier ergründet. Ist er arbiträr? Ganz nach dem Sprichwort: Die Katze lässt das Mausen nicht. (Antoine Tille)
Herstellungsjahr: 2008-2009
Stefanie Becker
Siehe Seite auf Französisch.
Herstellungsjahr: 2012
Gleichzeitig zusammen dasselbe Programm im TV anschauen? Hong Kong, 9 Uhr abends, Dezember 2000. Für seine Serie «TV Time» hat der Fotograf Georg Aerni während seiner nächtlichen Streifzüge durch Hong Kong die plötzlichen Lichtveränderungen an und aus den Gebäuden aufgenommen. Die Serie zeigt eine Abfolge von Fassaden, die von zahlreichen kleinen Vierecken erleuchtet sind. Die kleinen Vierecke wirken dabei wie ein sich ständig wiederholendes Motiv. Kleine Details erlauben es allerdings, die einzelnen Vierecke voneinander zu unterscheiden; so gibt es etwa phosphoreszierende Bildröhren, die ein bläuliches Licht abgeben und mit dem orangen Glanz, der aus anderen Wohnungen dringt, konkurrieren. Die unterschiedlichen Elemente verweisen auf eine Vielfältigkeit, die sowohl auf die Ästhetik, als auch auf den sozialen Status der Bewohner und der Quartiere, in denen sie leben, bezogen werden kann. Die Towers scheinen unendlich in den Himmel hinauszuwachsen, sie stellen eine spezielle Silhouette der urbanen Landschaft dar, die sich in einer Wiederholung senkrechter, sich am Horizont ausdehnender Linien ausdrückt. Man bekommt den Eindruck, es seien Hunderte von Menschen anwesend, obwohl man diese nie zu Gesicht bekommt. Die Frontalansicht der Gebäude scheint es fast möglich zu machen, in die Wohnungen einzudringen. In unserer Fantasie entfaltet sich ein Innenleben; es entsteht eine Spannung; man hat den Eindruck, ein «Voyeur» zu werden – dabei bleibt das Aussenleben intakt, es spielt sich gleichsam über der Szene ab, die wir sehen. Georg Aerni hinterfragt die architektonische Struktur von modernen Städten. Er liefert mit dieser Serie ansatzweise eine fotografische Antwort auf die Fragen, die er sich zu Hong Kong gestellt hat. In dieser Stadt, in der die urbane Beschleunigung in einem von wirtschaftlichem Aufschwung geprägten Umfeld abläuft, gibt uns der Künstler die Möglichkeit, unser eigenes Bild von der Stadt kritisch zu beleuchten und unsere täglichen Aktivitäten, die wir inmitten von vielen Individuen ausüben, die sich nahe bei uns oder anderswo befinden, zu überdenken.
Herstellungsjahr: 1999–2000
Georg Aerni
Die Protagonisten in meiner Geschichte sind Toreros, la Corrida. Ich hatte kaum Kontakt mit Stierkämpfen, bis ich vor langer Zeit einer Corrida während eines Aufenthaltes in Spanien beiwohnte. In Erinnerung blieben mir einige Fotografien von Meyer und von Isabel Muñoz. In Yucatán (Mexico) zog mich die Poesie der Corrida an, ihre Brutalität und die Theatralik des Ablaufs. Ich entschied mich dazu, die Kulissen dieser Tradition zu fotografieren, das Warten, die Vorbereitungen der Stiere, die Schlüsselmomente vor dem Eintritt des Stiers, ohne dabei etwas von den Vorgängen in diesen vergänglichen Arenen zu verraten.Rituale des Anziehens, einem Tanz ähnlich, stehen im Dialog mit Bildern, welche die Verletzlichkeit, die Wunden der Toreros enthüllen. Porträts lassen Platz für ihren Stolz. Spiegelungen, Ausschnitte des Himmels und andere impressionistische Details geben die magische Stimmung dieser Tradition wieder. Im Laufe der Wochen und der Begegnungen habe ich sie schätzen gelernt, die Toreros Mayas mit ihren vom Licht durchlöcherten Kleidern und müden Umhängen. (François Schaer)
Herstellungsjahr: 2006
François Schaer
Siehe Seite auf Französisch.
Herstellungsjahr: 2014
Siehe Seite auf Französisch
Herstellungsjahr: 2013
«Climbing into the attic» ist ein Gleichnis für das Erforschen von neuen Welten, von verlorenen, vergessenen Dingen und für Auseinandersetzungen und Konflikte, die sich an der Frage entzünden, was die Zukunft bringen soll: Es erweist sich dabei als notwendig, auch von Positionen und Etiketten zu reden. Wir schätzen die Tatsache, dass unsere jeweiligen Fähigkeiten, die einen grundlegenden Bestandteil unseres eigenen Ichs ausmachen, sich im Verlauf der Entwicklung, die unsere Zusammenarbeit anstösst, verändern. Das Ziel ist nicht im Voraus bestimmt, die Störungen, Missverständnisse und Meinungsverschiedenheiten werden dadurch zu Erinnerungen an die Zeit, die wir zusammen auf der Suche nach diesem unbeschreibbaren Weg verbracht haben. Ursprünglich wollten wir herausfinden, was vs genau bedeutet. Zufällig stiessen wir dabei auf VS: Das ist die gängige Bezeichnung für Flugzeuge, die mit «stall speed» (Überziehgeschwindigkeit), d.h. mit der Mindestfluggeschwindigkeit fliegen, bei der ein Flugzeug noch kontrollierbar ist. Beide Herleitungen von «vs» passen in mancher Hinsicht gut zu der Art und Weise, in der wir unsere Zusammenarbeit gestalten.
Herstellungsjahr: 2011
Raphael Hefti & Alex Rich
In der Serie Theatrical Suggestions (After Brouillet) lässt sich Balogh durch das berühmte Ölbild Pierre-André Brouillets (1857-1914) inspirieren. Das Gemälde Une Leçon Clinique à la Salpêtrière (1887) zeigt den Neurologen Jean-Marie Charcot (1825-1893), wie er vor einer ganzen Schar von Kollegen eine Frau behandelt, die, hypnotisiert und nach hinten eingeknickt, von Charcots Assistenten auf den Beinen gehalten und in dieser Stellung der Menge vorgezeigt wird.
Mit seinem Interesse an Charcots Studien über hysterische Frauen, verweist Balogh auf den Diskurs, der die Hysterie in die Nähe der theatralen Inszenierung rückt. Bereits Charcots Forschungsarbeiten dokumentierten mit zahlreichen Fotografien eindrückliche Beispiele von Patienten, die sich in die Diagnose des Arztes hinein leben wie in eine Theaterrolle, und auch die moderne Medizin macht geltend, dass das Störungsmuster vorwiegend in der Gegenwart eines Gegenübers auftritt. Die hysterische Interaktion wird deshalb nicht ganz zufällig zum Archetypus eines klassischen Machtverhältnisses zwischen Mann und Frau stilisiert, das sich beim zweiten Hinschauen gewissermassen ins Gegenteil verkehrt. Berühmte SchauspielerInnen haben diese Positionen in der Salpêtrière vor Ort studiert und mit Bezug auf Charcot feierten die Surrealisten 1928 gar genüsslich das fünfzigjährige Jubiläum der Hysterie.Balogh thematisiert mit seinen eigenen theatralischen Vorschlägen so eine Interaktion, die selbst schon als Inbegriff des Theatralischen gilt. Die Betonung legt er dabei nicht auf die psychische Devianz, sondern vielmehr auf das theatralische Moment des sich Fallenlassens, das dem designierten Fänger keine andere Wahl lässt, als aufzufangen, was da kommt. Wie in der hysterischen Interaktion präsentiert sich die Fallende dabei schutzlos, entblösst, weich, geradezu durchlässig und zuweilen auch lasziv. Das unscheinbar flirtende Schauspiel der Hysterikerin konfrontiert den Fänger unweigerlich mit der Frage, was er mit der entrückten Weiblichkeit anfangen soll, die sich ihm unvermittelt hingibt. Des Fängers Blicke auf das Licht beschienene Gesicht der Fallenden werden dabei stets als beschützend und umsorgend inszeniert. Baloghs Fänger sind stolze Fänger und gleichzeitig doch auch Gefangene ihres eigenen Beschützerinstinkts. Selbst im unspektakulären Hintergarten entwickeln diese Schwächeanfälle so eine bühnenreife symbolische Aussagekraft, gegenüber der sich der Betrachter erst einmal selbst situieren muss.
Pascal Kaegi
Istvan Balogh
Der Rockstar verlässt die Bühne, schweissüberströmt und mit Adrenalin vollgepumpt. Das Kreischen der Fans wird leiser, tritt in den Hintergrund. Immer wieder dokumentiert Matthias Willi diesen intimen Moment; die Transformation von öffentlicher zu privater Person. Für ihre Fans sind diese Menschen Halbgötter. Es besteht die Versuchung zu glauben, es offenbare sich in diesen Momenten der Erschöpfung ein authentischeres, “wahreres” Gesicht. Juliette Lewis, eine der von Willi Porträtierten, sagt: “Dies ist die einzige Art zu zeigen, wie wir wirklich sind.”
Doch beschleicht einen das Gefühl, dass selbst das vielbeschworene “Fallen der Maske” Teil der Inszenierung ist. Die Rockmusik lebt vom Mythos der Authentizität: Einzigartige Typen, welche unbeirrt ihr Ding machen. Individualismus. Konsistenz. Echtheit.In der Serie enthüllen Willis Bilder jedoch auch eine andere Seite: Die Stars sind Repräsentanten eines komplexen Systems von Identitätsstiftung und -Konstruktion. Sie verkörpern einen Lebensstil, welcher so erst in unserer Zeit denkbar geworden ist. Allem Individualismus zum Trotz sind auch sie Rädchen im kommerziellen System. Der Alltag “on Tour” zeigt sich prosaisch: Zigarette, Frotteetuch, Bier aus dem Plastikbecher. Hinter der Bühne wird die Illusions-Maschinerie fadenscheinig: Schlecht verlegte Spannteppiche, mattschwarz bepinselte Faserplatten, Warenaufzüge. Auf den ersten Blick kommen Willis Bilder daher, als hätte er nur die Kamera draufgehalten und abgedrückt. Doch bei genauer Betrachtung ist das Licht (aus Richtung der Kamera) für einen billigen Pop-up Blitz doch zu weich. Hinter der trashigen Ästhetik verbirgt sich Professionalität, Kontrolle. Auch die Farbgestaltung und Komposition der Bilder ist von beträchtlicher Raffinesse.
Willi beschäftigt sich auch in seinen anderen Arbeiten mit Musik- und Jugendkultur. (Simon Stähli)
Herstellungsjahr : 2008
Matthias Willi
Siehe Seite auf Französisch.
Herstellungsjahr: 2015
Für seine Bilderserie The Mathematics of Regression hat Clément Lambelet über 55 000 Bilder aus einer amerikanischen Datenbank mit Fahndungsfotos (mugshots) gesammelt. Diese Daten werden dazu verwendet künstliche Intelligenzen für die Gesichtserkennung zu schaffen, die sich auf systemisch diskriminierende Normen des Justizsystems stützen. Mit dem Ziel, diese Porträts von ihrem ursprünglichen Zweck zu entfremden und die Gefahren ihrer Verwendung offenzulegen, hat der Künstler eine künstliche Intelligenz entwickelt, die diese Bilder nach Geschlecht und Alter zusammenstellt. Die daraus entstehenden Porträts sind die Stereotypen dieser Datenbank. Die durch Algorithmen entstandenen Verdächtigen werden, dank einer Überlagerung von Bildern und einem Lentikulardruck, der die Identifikation der Subjekte verhindert, anonym gezeigt. In einer Kontrollgesellschaft bringt diese Arbeit die Gefahren ans Licht, die eine missbräuchliche Verwendung des Bildes für unsere individuelle Freiheit haben kann.
Das Video Reassuring White Noises, das gemeinsam mit dem Künstler Valentin Woeffray entstanden ist, ergänzt die Porträtserie. In Anlehnung an die Macht der Technologie und ihre rassistischen Auswüchse konzentriert sich dieses Werk auf die politische und mediale Macht. Das Video hinterfragt öffentliche Entschuldigungen für rassistische Äusserungen oder Handlungen: Gesten, Worte und Unausgesprochenes von Politikerinnen und Politikern, InfluencerInnen oder Komikern werden zerstückelt, wodurch ihr performativer und sinnentleerter Charakter hervorgehoben werden soll.
Dank einer Zusammenarbeit mit Belgrade Photo Month wird die Arbeit The Mathematics of Regression von Clément Lambelet vom 30.3 bis 12.4.23 in Belgrad, Serbien, präsentiert.
www.belgradephotomonth.org
Unterstützt von : Pro Helvetia / Ville de Genève – Département de la culture et de la transition numérique / Polygravia
Herstellungsjahr: 2019-2023
Schon seit mehreren Jahren hinterfragt Catherine Leutenegger das Medium Fotografie und dessen Produktionsbedingungen. Im Herbst 2005 startete sie ein Projekt, in dem sie Fotostudios besuchte mit der Absicht, die Haltung ihrer Berufskolleginnen und -kollegen gegenüber der Digitalisierung der Fotografie in Erfahrung zu bringen. Die Bildserie “Hors-champ” (“ausserhalb des Bildrahmens”) ist das überzeugende Resultat dieser Arbeit. Der Ort, an dem Bilder entstehen, der intime, diskrete, ja geheime Raum wird öffentlich gemacht und ans Licht gebracht. Die Technik, mit der die Farbbilder gemacht wurden, ist hochklassig, Licht und Ausschnitt werden meisterlich gehandhabt, die Details sind fein herausgearbeitet; die Beherrschung des Technischen in Kombination mit der Originalität des Themas brachte der Fotografin 2007 den Manor-Preis des Kantons Waadt ein.Nachdem Catherine Leutenegger die Fotostudios der Romandie abgeklappert hatte, begab sie sich dank eines Werkstipendiums nach New York. Dort angekommen, interessierte sie sich nicht “nur” für ihre Berufskolleginnen und -kollegen, sondern wählte diesmal einen phänomenologischeren Ansatz. Sie verlässt New York vorübergehend und geht nach Rochester / NY, die Hauptstadt der Fotografie, auch “Kodak City” genannt. Dort richtet sie ihr Augenmerk neu aus und konzentriert sich auf den Produktionsort, auf die industriellen Komponenten, d.h. auf die Herstellung des Films und die damit verbundenen Abläufe. “The Kodak City” behält die Farbe bei, ändert allerdings die Form. Nach den grossformatigen Bildern von “Hors-champ” vollendet die Künstlerin ein kleines Werk, das begleitet wird von Texten, welche ihre Absichten und die Methode ausführen. Das (Log-)Buch, auf Kosten der Künstlerin publiziert, geht ein auf eine ergiebige, weiterführende Materie, es behandelt das heikle Thema der Filmoberfläche. Catherine Leutenegger setzt sich letztlich mit der berühmtesten Firma, die mit Fotografie und fotografierelevanten Themen in Verbindung gebracht wird, auseinander, und liefert einen persönlichen Kommentar dazu. Das Fazit ist vernichtend. Eine Abfolge von leergefegten Strassen, von heruntergekommenen Geschäften, von schon oder demnächst zerfallenen Häusern, ein trauriger und grauer Himmel, und zur Abrundung ein paar Gespräche. Der Schritt von der maroden Umgebung zur maroden Fotofilm-Industrie ist kurz. Von weitem sieht die Kodak-Firma noch leidlich aus. Je näher man allerdings kommt, desto deutlicher sieht man die riesigen, verlassenen Parkfelder, und das Innere der Firma zeugt von verflossener Grösse und von überholten Moden. Die Meta morphose ist in vollem Gang und oszilliert zwischen fortschreitendem Niedergang und von der digitalen Revolution beschleunigter Vernachlässigung. Rochester beherbergt “die Headquarters der Eastman-Kodak- Gruppe”, des “weltweit führenden Bild-Unternehmens”, die Marktführerschaft scheint allerdings schwer gefährdet. Rochester steht in der vormals stolzen Tradition der Arbeiterstädte Pennsylvanias oder Michigans, das Gedeihen der Stadt hängt nicht zuletzt vom Geschäftsgang von Kodak ab. Weil die Firma allerdings die Tragweite und die Radikalität der digitalen Revolution nicht verstanden und damit die Entwicklung verpasst hat, steckt sie seit 1994 in einer tiefen Krise. Seither hat die Firma über ein Drittel ihrer Gebäude abreissen lassen und 30’000 Stellen abgebaut. Die Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie ein Abzug entsteht und mit der Frage, welche formellen und räumlichen Herausforderungen damit verbunden sind, untersucht den Einfluss der digitalen Revolution in einer eher soziologisch gefärbten Form und berührt dabei Themen wie die Wirtschaftskrise und deren logische Folgen: Arbeitslosigkeit, Entvölkerung der Stadt, Anstieg der Kriminalität – und das alles aus der Sicht von ein paar ausgewählten Kodak-Angestellten. Dieses bedrückende Umfeld hat das Format und die Beziehung vom Bild zum Text stark beeinflusst. Auf der einsamen Reise durch diese Stadt im Niedergang hat Catherine Leutenegger spontan damit begonnen, Aufzeichnungen zu machen und zu schreiben. Einerseits setzte sie sich damit zusätzlich aus, andererseits gab ihr das Schreiben die Möglichkeit, das Innere abzuhorchen und der traurigen Grundstimmung einen Riegel zu schieben. Die Anforderung, ihren Gefühlen und jenen der Personen, mit denen sie sich unterhielt, sprachlichen Ausdruck zu verleihen, führte letztlich dazu, dass sie ein Heft führte, in dem sich das Erlebte und Gesehene in Form einer Erzählung kristallisierte: “Ein Buch ist sehr gut dazu geeignet, die Spur einer Geschichte nachzuzeichnen; es erlaubt es, Bilder gleichsam in Formalin einzulegen”. Das Buch ermöglicht es auch, den Gebrauchscharakter zu betonen und für eine bestimmte Zeit Abstand zu nehmen vom autonomen Werk und seinen ästhetischen Herausforderungen, d.h. Abstand zu nehmen von der Unvereinbarkeit von Kunst und Dokument. Die moderne Welt wandelt sich konstant. Das Werk von Catherine Leutenegger setzt sich mit einem Abschnitt amerikanischer Industriegeschichte auseinander. Es ist eine Form von Industrie, die vom Untergang bedroht ist. Die Künstlerin selbst kämpft nicht an vorderster Front gegen diesen Niedergang, sie stellt aber ihren Berufsalltag, den Alltag mit und in der Kunst dar. Catherine Leutenegger ergreift nicht Partei und hat nicht im Sinn, das Schicksal des Fotofilms persönlich zu beeinflussen. Mit ihrer Arbeit will sie weniger die Welt verändern, als vielmehr eine Bestandsaufnahme eben dieser Welt vornehmen. Die Fotografie wird zur historischen Spur, ästhetisch nähern sich die Bilder dem “dokumentarischen Stil” oder auch den Aufnahmen von Stephen Shore an. Kodak hat dank seiner Fotofilm-Produktion bei der Archivierung von Dokumenten eine herausragende Rolle gespielt. Es macht ganz den Anschein, als möchte die Firma selbst nicht Thema oder, wenn man so will, Kandidat für ein Archiv werden. Besucherinnen und Besucher werden, streng bewacht, über einen ganz bestimmten und klar abgesteckten Parcours durch die Firmengebäude geführt. Catherine Leutenegger wollte hinter die Mauern und Vorhänge schauen, stiess aber auf eine Mauer der Ablehnung. Das Management möchte nicht, dass jemand das Auseinanderfallen des Konzerns und dessen unsichere künftige Entwicklung von nahem betrachtet. Man kann die emotionalen und strategischen Gründe, die hinter einer solchen Ablehnung stecken, nachvollziehen, das Image der Firma steht auf dem Spiel. Die Autopsie ist damit aufgeschoben, der dokumentarische Impetus, der hinter dem Projekt steckt, ist vorübergehend gebremst. Die Wahl des Fotoapparates ist mit dem Thema verschachtelt. Wäre es nicht eine Ironie des Schicksals, wenn dieser Bericht über Geschichte und Niedergang des Fotofilms digital aufbereitet würde? Digitale und analoge Fotografie haben sich hier ergänzt. Sobald das Licht knapp war, dafür aber reichlich Zeit zur Verfügung stand, kam eine analoge Mittelformatkamera zum Einsatz. Für die spontaneren Bilder “on the fly” nutzte die Fotografin hingegen eine digitale Spiegelreflexkamera. Das grossartige Werk ist also sozusagen von einem Zwitter realisiert worden. (Ariane Pollet)
Herstellungsjahr: 2007
Catherine Leutenegger
Schon der Titel der Serie weist auf die Kontinuität in Alexander Odermatts Arbeiten hin. Bisher entstanden unter dem Titel “System Research” vier Serien, in deren Zentrum die Problematik der Politik der Migrationsbewegungen steht. In “System Research #1 Oder / Neisse” (2003) und “System Research #3 Bodycount” (2005) interessiert sich der Künstler für illegale Migrationsströme ins Schengengebiet, an den Grenzen zwischen Deutschland, Tschechien und Polen. Mit dokumentarischem Blick beobachtet der Künstler in “System Research #4 Maroc” (2005-2007) den Alltag der Migranten aus dem südlichen Saharagebiet, vor allem in der Durchgangszone zwischen Marokko und Spanien. Die hier gezeigte Serie heisst “System Research #2 Intimacy “. Auf den ersten Blick erzeugen diese Bilder Verwirrung; unvermeidlich erinnern sie durch eine nahe, frontale und vertikale Fokussierung und durch den neutralen Hintergrund an das Genre des Porträts. Gleichzeitig werden diese Bilder ihres Hauptelements beraubt, ihres Subjektes. Was bleibt, sind Gegenstände und das Dekor. Fast geraten wir in die Versuchung, darin Porträts zu sehen, in denen Dinge Attribute sind und das fehlende Subjekt andeuten. Schnell werden wir uns aber bewusst, dass die Auslassung des Subjektes eine Stilübung ist, welche die dramatische Spannung im Bild unterstreicht. Die Fokussierung des Blicks auf die Nachttische eines Zentrums für Asylsuchende gewährt Einblick in die Intimität der Migranten. Diese Intimität in den kühlen Schlafräumen spiegelt sich in wenigen persönlichen Gegenständen wieder. Eine Haarbürste, ein heiliges Buch, eine Wasserflasche, Ikonen, Essen, Zahnpasta, das ganze Hab und Gut muss auf einem Nachttisch Platz haben. Durch die Abwesenheit des Subjektes setzt der Fotograf den Akzent auf die Natur der Sache, die in seiner Arbeit als Ausdruck der “ Condition Humaine “, der Kultur und der Identität fungiert: die Hygiene das Essen, die Religion und der Wille, sich anzupassen. Die kleine Anzahl der persönlichen Sachen weist zudem auf alles hin, was fehlt, was im Herkunftsland verlassen werden musste oder verloren ging, und zwar sowohl betreffend materieller wie auch immaterieller Werte. Doch diese Objekte stehen eher zufällig im Zentrum der Aufmerksamkeit und bringen so die Abwesenheit viel stärker zum Ausdruck. Indem Alexander Odermatt die Komposition ihres Hauptelementes beraubt, gelingt es ihm, unser Interesse auf das Individuum und sein Leben als Asylsuchender zu ziehen. Dieser bleibt unsichtbar, weil er sich versteckt und weil er nicht der Norm entspricht, aber vor allem, weil wir ihn nicht sehen wollen, so wie er auch in den Augen der Grenzwache und des Gesetzes nicht existiert. So drückt der Künstler die Schwierigkeit des Seins, des Existierens, des Auslebens der eigenen Identität in Übergangssituationen wie der Migration aus. Das Dekor der Porträts, wie auch die Gegenstände, verraten die Mittellosigkeit der Asylsuchenden; die Einfachheit des Mobiliars, die Kälte des Metalls, die weissen Wände unterstreichen den formellen und funktionellen Charakter des Ortes, neutral, kalt, provisorisch. Hier lässt man sich nicht nieder. Der minimale Komfort, der den Personen zusteht, lässt keinen Raum für den Ausdruck eigener Identität und Kultur. Dennoch, wenn wir genauer hinschauen, erweisen sich die verblassten Flecken an der Wand, als Reste von Poster und Fotos. Es sind Schriftzüge, die vom menschlichen Reflex zeugen, eine Spur zu hinterlassen, zu sagen, wer man ist, und dass man an diesem Ort vorbei kam; Ausdruck eigener Identität. (Anne Froidevaux)
Herstellungsjahr: 2004
Alexander Odermatt
“Die Schweiz gegen die Welt” – eine gewagte Kampfansage – ausgetragen in einer Konfrontation von ebenso unkaschierten Fotoserien und kommentiert von einem entwaffnenden Wortgefecht. In einer Gegenüberstellung stehen Fotografien von schweizerischen Motiven mit Aufnahmen derselben Motive aus Ländern, die der Schweiz nicht nur hinsichtlich ihrer geografischen Distanz sehr fern liegen: Texas, Iran, Nordpol, Afghanistan und China. Nicht nur die schweizerischen Traditionen und Wertvorstellungen werden durch den postwendenden Vergleich hinterfragt, relativiert und ad absurdum geführt. In erregter Kampfbewegung festgehaltene Schwingkönige mit ihren vor Anstrengung verzerrten Gesichtern wirken neben den tobenden Rodeo Stieren gleichsam animalisch und ihre Kampfbemühungen illusionslos in den Sand gesetzt. Die Burka fungiert als modisches Mahnmal gegen den schweizerischen vorsintflutlichen Pelzmantel.Der Betrachter wird durch das Prinzip der Gegenüberstellung von einem ästhetisierenden und naiven Blick geleitet, der jegliche Ernsthaftigkeit oder politische Konnotation mit Charme und Witz untergräbt. Die frontal fokussierende Perspektive und die markante Schärfe und Farbigkeit aller Fotografien, in Zusammenhang mit der seriellen Konzeption widerspiegeln die entlarvende und Werte verklärende Thematik der Motive. Die Schweiz gewinnt schlussendlich mit einem bescheidenen, aber triumphalen klein aber oho! (Katja Willi)
Herstellungsjahr: 2001-2010
Riverboom
Das Projekt «Surveillance Panorama» zeigt Panoramabilder, die aus zahllosen Bildern zusammengesetzt sind, die jeweils mit einer computerprogrammierten Webcam aufgenommen und anschliessend in chronologischer Abfolge geordnet wurden. In «Temporary Discomfort» und «Fabre n’est pas venu» thematisiert Jules Spinatsch die Politik: das World Economic Forum in Davos, die G8-Gipfel und eine Sitzung des Stadtrates von Toulouse. Immer nehmen dabei die Kameras Bilder in regelmässigen Abständen von drei bis vier Sekunden auf. Die einzigen Konstanten, die der Fotograf dabei vorgibt, sind die Aufnahmedauer und der Ort, wo der Fotoapparat aufgestellt wird. In den so realisierten Raum-Zeit-Puzzles reicht die Informationsdichte nicht aus, um den ganzen Anlass nachvollziehen zu können. An die Stelle des herausragenden Moments tritt eine globale Bildfolge, die sich aus zufälligen Momenten zusammensetzt. Der Fotograf distanziert sich vom Spektakulären und vom kontrollierten Bild, das die Betrachter passiv von den Medien übermittelt bekommen. Sämtliche Elemente der Aktion werden genau gleich behandelt, auf dieselbe Stufe gestellt – das bringt den Betrachter dazu, das Bild wirklich und näher anzuschauen und es zu deuten. In seinem zweiten Panorama («Heisenberg’s Offside») verbindet der Künstler seine Art und Weise, Tatsachen und Informationen aufzubereiten, mit der vom Physiker Heisenberg entdeckten Unschärferelation, die besagt, dass bei genauer örtliche Bestimmung eines Teilchens, seine Geschwindigkeit nur annäherungsweise gemessen werden kann. In den Arbeiten von Jules Spinatsch wird der Raum in seiner Ganzheit reproduziert, während die Zeit fragmentiert dargestellt wird. Im Gegensatz zu den Bildern in den Medien wird die zeitliche Aufsplitterung hier eben nicht aus dem letztlich veröffentlichten Bild wegradiert; das Aufzeigen der Aufsplitterung wirft damit ein Licht auf die spekulative Dimension, die der Aufzeichnung eines Anlasses innewohnt.
TEMPORARY DISCOMFORT, CHAPTER IV – PULVER GUT, 2001–2003; HEISENBERG’S OFFSIDE, 2005–2008; FABRE N’EST PAS VENU, 2006
Jules Spinatsch
Die Serie Stand-ins überzeugt auf Anhieb durch ihre formale Perfektion. Die jeweils dargestellte Person steht in der Bildmitte, ist in ihr Umfeld eingebettet. Der Bildausschnitt ist sorgfältig gewählt, alles erscheint sauber, ruhig und klar. Man könnte meinen, es handle sich um eine klassische Portraitseri. Doch der Ernsthaftigkeit der Gesamtkomposition stehen humoristische Details entgegen. Ein Hauch von Spontaneität, von Unabgeschlossenheit, von Provisorium ist nicht zu verleugnen. Unmöglich, dass der Abgelichtete auf einem repräsentativen Portrait die Augen weder richtig offen noch ganz geschlossen hat oder dass ein Luftballon den Kopf des Portraitierten verdeckt. Genau dies ist jedoch bei Bertschis Stand-ins möglich.Die Bilder oszillieren zwischen perfekter Inszenierung und Schnappschuss. Nie kommt der Betrachter zum abschliessenden Urteil, denn stets verhindert der eine Pol eine Zuordnung zum andern. Zu diesem lebendigen Charakter der Bilder kommt es durch ihre Produktionsweise und ursprüngliche Funktion. Stand-ins ist ein Nebenprodukt von Markus Bertschis Arbeit als Auftragsfotograf. Bevor der Firmenchef zum Fototermin erscheint, testet der Fotograf die räumliche Situation mit Hilfe einer beliebigen anderen Person oder allenfalls auch mit einem Objekt. Anhand dieser Vorbereitungsbilder kann er sich auf die vorherrschenden Licht- und Grössenverhältnisse einstellen und die Kamera entsprechend einrichten. Während die eigentliche Auftragsarbeit, ein Höchstmass an Inszenierung erfordert – Inszenierung in dem Sinne, dass minutiös durchdacht sein muss, was auf dem Foto zu sehen sein soll, damit ein interessantes Bild dieser Firma vermittelt wird, ohne jedoch die Künstlichkeit der Situation sichtbar zu machen – ist das Standin das spontane Vorbereitungsbild. Die Zufälligkeit zeigt sich auf dem Bild in der Testperson, doch im Räumlichen dringt bereits die spätere Inszenierung durch. Ein Spannungsverhältnis entsteht, welches den Betrachter fasziniert und den Stand-ins ihre Qualität als eigenständige Serie verleiht.
Nora Fiechter
Markus Bertschi
Die Installation von Romain Roucoules lässt uns exemplarisch ins Thema «Flood» eintauchen. Ausstellungen generieren heute, auf indirekte Art und Weise, ebenfalls eine bestimmte Anzahl von «Kollateral»-Bildern, die von den AusstellungsbesucherInnen über soziale Netzwerke und durch verschiedene Akteure aus nah und fern verbreitet werden. Diese immateriellen Bilder werden unweigerlich Teil eines Bildflusses und existieren ausserhalb der Bedingungen der sozialen Netzwerke nicht. Unter Verwendung eines Druckprozesses, welcher der inkonsistenten Art dieser Bilder widerspricht, unternimmt Romain Roucoules den Versuch, diesen immateriellen Fluss in einen physisch greifbaren zu verwandeln. Diese Materialmasse wird zu einer stetig wachsenden Skulptur, die Auskunft über die Nutzung der sozialen Netzwerke gibt.
Teilen Sie Ihr Bild auf Instagram mit dem Hashtag #floodedbiel, um die Social Printer Installation zu unterstützen!
Herstellungsjahr: 2019
Die «Shoe Box» von Seba Kurtis bezieht sich nicht auf das Objekt selbst, sondern auf seinen Inhalt: Familienschnappschüsse, in einer Schuhschachtel hinterlassen, als Seba Kurtis und seine Familie Buenos Aires verlassen. Unter dem Druck der wirtschaftlichen und politischen Krise flüchten sie aus Argentinien nach Spanien, wo sie als illegale Einwanderer leben. Die Aufnahmen, nach Jahren zurückerlangt, sind beschädigt, gezeichnet vom Lauf der Zeit und einem Wasserschaden. Indem er die Aufmerksamkeit auf den ästhetischen Aspekt dieser Spuren richtet, erschafft der Fotograf eine bedeutungsvolle Welt, in der die Dimensionen der Identität und der Erinnerung eine wichtige Rolle spielen. Die Vorder- und Rückseiten verstärken den Eindruck eines Gemäldes, das durch diese abstrakten Spuren der Zeit entstanden zu sein scheint. Die glänzende Unterlage, zerfressen und ausgebleicht, lässt diffuse Flecken erscheinen, wie Dampfwolken, die aus der Emulsion aufsteigen. Der Fotograf hebt dadurch die Instabilität des chemischen Prozesses hervor, welcher damit zu einer Metapher für die Unbeständigkeit unseres Gedächtnisses wird, welches mit dem Lauf der Zeit ebenfalls auszubleichen scheint. Diese Flüchtigkeit erinnert an die vergängliche Natur des Menschseins, welche der Künstler während seiner Jahre als illegaler Einwanderer immer wieder am eigenen Leibe erlebt hat. Durch die Neuinterpretation seines Familienalbums nimmt Seba Kurtis teil an dieser immer wiederkehrenden Fragestellung der zeitgenössischen Kunst: der Frage nach Sinn und Form der Archivierung, der Erinnerung und der Darstellung der Vergangenheit. Er spielt dabei auch mit der zweifachen Dimension der Sprache dieser Familienbilder, welche einerseits das gemeinsame Gedächtnis der Familie widerspiegeln, andererseits eine geschichtliche Informationsquelle darstellen. Die «Shoe Box» symbolisiert hier den biografischen Bruch, das «Vorher» und «Nachher», welches durch die Erfahrung der Migration entstand. Die Bildkomposition und die abgebildeten Szenen erscheinen uns vertraut, erinnern uns an unsere eigenen Familienalben. Seba Kurtis erlaubt uns hier einen Blick in seine Biografie, welche uns aber letztlich wieder auf unsere eigene zurückverweist.
Herstellungsjahr: 2008
Seba Kurtis
Unweigerlich und stetig erweitert die wissenschaftliche Forschung unser Wissen, ordnet es und stellt es in Frage. Hinter dieser gigantischen Denk-Maschinerie verbirgt sich ein ganzes Universum, das der breiten Öffentlichkeit nur wenig bekannt ist. In ihm sind die Misserfolge so zahlreich wie die Erfolge. Die Welt der Wissenschaft hält Momente der Schönheit bereit, die dem Zufall entrissen wurden, und sie basiert auf unzähligen Fragen, die geduldig und unbeirrt immer wieder gestellt werden. Die 450 Werke, die im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) organisierten Wettbewerbs für wissenschaftliche Bilder eingegeben wurden, erzählen vielfältige Geschichten. Die Bieler Fototage stellen die von einer internationalen Jury ausgewählten und prämierten Werke vor: Fotos und Videos, die hinter den Spiegel der Wissenschaft blicken. (Daniel Saraga)
Zudem wird die Ausstellung Seeing science in Zusammenarbeit mit dem SNF-Wettbewerb für wissenschaftliche Bilder begleitet von einem Diskussionsmorgen mit Luce Lebart (Archive of Modern Conflict, London), Joël Vacheron (ECAL), Francesco Panese und Gianni Haver (Universität Lausanne). Der Anlass findet am Samstag, 18. Mai von 9.00 bis 12.30 Uhr statt. Im Zentrum der Diskussionen wird die Bedeutung des Bildes im wissenschaftlichen Bereich stehen.
In Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Nationalfonds(SNF).
An weissen Mauern hängen grosse Papierbögen, auch sie sind makellos weiss. An der Decke summen Schwarzlichtröhren. Die Stunden ziehen vorüber, es wird langsam dunkel, das strahlende dunkle Licht beginnt zu dominieren und bringt die Siebdrucke zum Vorschein. Aus dem Weiss schälen sich Bilder von Drogensüchtigen und Nachtschattengewächsen. Die Bilder von «Schwarzes Licht» pendeln zwischen Präsenz und Absenz. Der Zyklus des Erscheinens und Verschwindens variiert je nach Art und Intensität der Lichtquelle. Die visuelle Erfahrung des Betrachters ist also abhängig von der Zeit, und zwar im meteorologischen Sinn wie auch von der Dauer her. Die im Dunkeln sichtbaren Menschen- und Pflanzenkörper verblassen und verschwinden, sobald es hell wird. Diese Umkehr zwischen Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit und Tag/Nacht verweist direkt auf die Gegenüberstellung Leben/Tod. Die latenten Bilder zeigen sich dem, der lange genug wartet, um sie zu sehen, und sie können denjenigen überraschen, der sie nicht erwartet hat. Nicole Hametner arbeitet in der Serie den verstörenden Charakter der Sujets künstlerisch heraus. Es ist kein Zufall, dass die Nacht eine zentrale Rolle in ihrem Werk einnimmt, sowohl als Sujet oder als Kulisse («Die Blaue Stunde», «Le Sapin »), aber auch als Conditio sine qua non («Schwarzes Licht»). Nicole Hametner macht keinen Hehl aus ihrem Interesse für die Romantik und die Psychoanalyse. «Schwarzes Licht» weist Bezüge auf zu Freud und zur Mythologie. Die Tollkirche (Atropa) verweist direkt auf Atropos. Der Lebensfaden wird von den drei Moiren gesponnen (Klotho), abgemessen (Lachesis) und schliesslich durchgetrennt (Atropos). Die Psychoanalyse sagt aus, der lange Faden der Lebenskraft werde strukturiert durch eine Abfolge von Situationen, die von Unterbrüchen oder Einschnitten geprägt sind. Wie Atropos strukturiert die Lichtquelle den Zyklus Erscheinen/Verschwinden, Leben/Tod der Bilder aus «Schwarzes Licht»
Herstellungsjahr: 2010
Nicole Hametner
Anhäufungen von Granaten, gestapelte Kisten mit altem Waffengut; Waffen, die entschärft werden; Männer, die diese Arbeit verrichten. Daneben Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Café, in der Bar; Wohnquartiere. Steeve Iuncker beschreibt mit Diptychen ein Bild der noch immer vom Krieg gezeichneten Stadt Sarajevo, 13 Jahre nach der Belagerung durch die jugoslawische Volksarmee, die fast vier Jahre andauerte und während der über 10’000 Menschen getötet wurden. Die Europäische Union beauftragte Iuncker im Rahmen eines Programms, mit dem sie die Vernichtung überalterter, nicht nur aus Kriegszeiten stammender Munition finanziell unterstützt, diese Abrüstung zu dokumentieren.Angesichts der deutlich spürbaren Folgen des Krieges, erschien es Iuncker unaufrichtig, sich auf das Auftragsthema zu beschränken, ohne die aktuelle Stimmung und Spannung in der Gesellschaft zu beschreiben. So präsentiert er seine Fotos als Diptychen, die als solche etwas anderes erzählen als isoliert. Statische Fotos aus der Munitionsfabrik, in der die Waffen verarbeitet werden, stehen unmittelbar von Geschichte und Leben bestimmten Fotos der aktuellen Gesellschaft gegenüber. Die Fotos in schwarz-weiss unterstreichen die auf ihnen offensichtliche Verbindung zur jüngeren Geschichte. Iuncker stellt den Krieg zeitlich versetzt dar – aus Kriegszeiten sind andersartige Bilder bekannt. Indem er seine Reportage über die Waffenvernichtung mit der Dokumentation über das Leben in Sarajevo verbindet, zeigt er im wörtlichen Sinne das Kollaterale, das für ihn weit mehr Bedeutung hat als die eigentliche Auftragsarbeit. Diese, sowie deren Ursprung, hinterfragt er somit kritisch. (Mariana Forberg)
Herstellungsjahr: 2009
Steeve Iuncker
«Reworks» ist eine Sammlung von digitalen Bildern, die von Alexis Guillier zusammengestellt wurde. Sie zeigen alle dasselbe Sujet: Kunstwerke, die eine zufällig oder willentlich erfolgte Beschädigung aufweisen. Die Sammlung wird als Diashow gezeigt, die einzelnen Bilder werden nach dem Zufallsprinzip von einem oder mehreren übereinandergestapelten Projektoren abgespielt. «Reworks» zeigt ein komplexes Zusammenwirken von verschiedenen zeitlichen Abfolgen, die in mehrere Schichten unterteilen. Da ist zunächst einmal die Zeit der Erschaffung und Ausgestaltung des Originals. Dann folgt eine heftige Aggression, die alles unterbricht und ihre Zeichen setzt. Die Fotografie wird Zeugin des Vandalenakts, sie hält den Augenblick festund «mumifiziert» ihn im Bild. Von diesem Zeitpunkt an laufen zwei Zeitschichten parallel: einerseits jene des «physischen» Werks, das mit der Zeit noch mehr Schaden nimmt oder aber repariert werden kann, und auf der anderen Seite das fotografische Bild. Letzteres ist ein komplexes Objekt, enthält es doch einerseits die Zeitschicht seines Motivs – und andererseits seine eigene Zeitschicht. Während ein auf Fotopapier entwickeltes Negativ auch einem konkreten Zerfall ausgesetzt ist, stellt sich die Frage, wie denn das bei einem digitalen Bild sei. Die Fragen, welche die Immaterialität des digitalen Bildes aufwirft, sind vielfältig. Verleiht die Digitaltechnologie dem Bild einen zeitlosen Charakter? Am Ende gibt es auch noch die Projektionszeit (die entweder von einer bestimmten Dauer ist oder in einer Endlosschleife erfolgt, in zufälliger Reihenfolge) und die Zeit, in der das Bild von den Betrachtern aufgenommen und rezipiert wird. Die in zufälliger Reihenfolge abgespielten Bilder stellen auch Erinnerungen dar, die sich schliesslich zum Menschheitsgedächtnis zusammensetzen. Wie die fotografierten Werke sind auch die Fotos selbst oft verfälscht. «Reworks» kann als Neuinterpretation der Geschichte aufgefasst werden. Es ist nicht so sehr das Sujet, welches das Foto festhält, als vielmehr das Ereignis, welches das Sujet geprägt hat. Die Werke werden damit zu Symbolen für vergangene oder gegenwärtige Ereignisse – als veritables und doch imaginäres Museum des digitalen Zeitalters stellt «Reworks» gleichzeitig eine historische und fiktionale Erzählung dar.
Herstellungsjahr: 2009
Alexis Guillier
Wie der Titel bereits nahelegt, lässt sich die Bildserie “RC 35MHz” – das entspricht einer Bezeichnung für eine Funkfrequenz, mit der ein Modellflugzeug auf Distanz gesteuert werden kann – offen auf technische Experimente ein und lässt dabei den Fotografen beim kreativen Prozess fast ein wenig aussen vor. Jaquemets Bilder entstehen während des Fluges oder besser während der Flugabweichung, die eine ungewöhnliche und zufällige, vom Menschen unbeeinflusste Kamerabewegung auslöst. Mit Bezug auf die Kartographie-Kampagnen des ausgehenden 19. Jahrhunderts setzt der Künstler ein Abbildungsverfahren ein, das am Rande von Bastelei und neuesten Technologien anzusiedeln ist. Er nutzt zu diesem Zweck eine «fliegende Kamera», ein ferngesteuertes Flugzeug mit Verschlussvorrichtung, einen mobilen und unabhängigen Beobachter. Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Untersuchungen aus der Neuzeit oder der Gegenwart – die Forschungsreisen des Elektronenmikroskops oder des Weltraumsatelliten –, geschieht diese Suche eher in einem poetischen als objektiven Rahmen.Während die traditionelle Luftbildfotografie versucht, so nahe wie möglich an der Realität zu bleiben, auch wenn die Umkehr der Perspektive zwangsläufig zu einer Verzerrung des Raumes und einer Art Abstraktion führt, so scheint hier Präzision nicht oberstes Gebot zu sein, ganz im Gegenteil. Wie ein Flaneur driftet der Fotoapparat vom Weg ab, frei wie die Luft, und bietet uns sowohl schräge als auch verschwommene Ansichten; das Hervorrufen eines flüchtigen Einblickes. Diese luftige Choreographie setzt einen Bewegungsfluss frei, der schonin anderen Bildserien des Künstlers zu beobachten war: “L’heure bleue”, wo der Blick über einen schlammigen Boden streift, oder “Aqua”, wo der Fotoapparat in trübes Wasser eingetaucht wird, um den Elementen so nahe wie möglich zu kommen. (Ariane Pollet)
Herstellungsjahr: 2008-2010
Alexandre Jaquement
La série Première fois (2005) met en scène les événements que la mémoire retient comme des premières fois. Vivre les choses pour la première fois n’a en soi rien de singulier. Mais ces étapes de la vie revêtent une dimension toute particulière lorsqu’elles ont lieu durant l’adolescence qui – plus que tout autre âge – est sans doute celui où de nouveaux mondes s’ouvrent à soi. Ainsi, le premier baiser, la première beuverie, la première voiture constituent autant d’événements qui signifient – par leur déroulement parfois ritualisé, voire par leur caractère transgressif – le franchissement d’une étape. Dans la série Héros (2006), le ton est donné par la posture et le regard de ces individus qui se preséntent tels des champions. Bien que leurs performances restent invisibles, les médailles qu’ils portent et leur attitude sévère nous poussent à croire qu’ils ont indubitablement accompli quelque chose. Mais ils pourraient tout aussi bien être des imposteurs… La performance en tant que telle se limite ici à une construction visuelle, où accessoires et emblèmes suffisent. Qu’il s’agisse de véritables héros ou de simples modèles photographiques, ces représentations renvoient à des mises en scène codifiées d’un passé absent.
Fritz Franz Vogel
Olivier Pasqual
Rousset weiss seine ländliche Herkunft für die Entfaltung seines künstlerischen Schaffens zu nutzen. Das Dorf Prabert (Isère, F), wo er einen Teil seiner Kindheit verbrachte, ist seit drei Jahren Schauplatz für seine Darstellungen. Der Künstler hat dabei ein Gespür für eine einzigartige Dimension von Raum und Zeit: «Die Dinge und die Menschen scheinen anachronistisch». Auf der Grundlage der Wirklichkeit ersinnt er sich eine neue Welt, die er mit Archetypen und eigenen Erinnerungen füllt. Es entstehen Phantasieräume, wo das Althergebrachte und das Fremde aufeinandertreffen, woraus sich unwahrscheinliche Situationen ergeben, die eine Art magischen Realismus, ja sogar Mystik hervorzubringen vermögen.Die Eigenheit des Schauplatzes und der Drang zu einem gewissen Chaos bilden den Ursprung für seine Fotografien. Die Menschen präsentieren sich in theatralischen Posen, aber auch die Tiere, Hauptakteure der täglichen Rituale auf dem Land, nehmen einen wichtigen Platz ein. So zum Beispiel auf dem Bild, wo der Kadaver eines Marders in einer von sachverständig arrangiertem Licht durchfluteten Küche gekonnt in der Nähe einer knisternden Feuerstelle platziert wurde. Oder auf der Fotografie, wo ein paar an den Füssen von der Decke hängende Hühner (die Opfer des Marders!) zu sehen sind. Sie schweben über einem Tisch, den jemand, so scheint es, hastig verlassen hat. Auch Gegenstände spielen eine zentrale Rolle: der in eine Bauernkarre umgewandelte, alte 2CV oder die vergängliche Schafskelett-Konstruktion – ein der Phantasie entsprungenes Säugetier. Die Fotografien sind üppig, scharfsinnig und zauberhaft und eröffnen einen ganz neuen Blickwinkel auf das Landleben. Durch ihre Anlehnung ans Malerische spielen sie mit der porösen Grenze zwischen Wirklichkeit und Einbildung und wecken einen grundsätzlichen Zweifel, der den Betrachter dazu drängt, seine Überzeugungen in Bezug auf das Landleben zu hinterfragen. (Daniel Mueller)
Herstellungsjahr: 2006
Thomas Rousset
In der heutigen Zeit spielen Bildschirme in unserem Leben eine immer wichtigere Rolle. Die sozialen Interaktionen erfolgen grösstenteils auf der sozialen Medien: Man chattet mit der Familie auf Whatsapp, man sucht seine grosse Liebe auf Tinder und man knüpft Freundschaften auf Online-Spielplattformen. Fotorealistische Avatare und komplexe Algorithmen – diese Phänomene stehen am Beginn der radikalen Veränderung, welche die zeitgenössische fotografische Praxis heute erlebt. Wie stellen sich die Fotografinnen und Fotografen in diesen virtuellen Räumen selbst dar?
Simone Niquille, Roc Herms und Alan Butler parallel während eines Tages drei Workshops leiten, die Profis aus der Welt der Fotografie offenstehen. Angeleitet von den drei Künstlern erforschen die Teilnehmenden die virtuelle Welt und hinterfragen die Begriffe Darstellung und Identität via die Fotografie.
Die Ergebnisse aus den Workshops werden anschliessend im Rahmen des Festivals ausgestellt. Photographing Virtual Spaceswird organisiert in Zusammenarbeit mit dem Programm SITUATIONS des Fotomuseums Winterthur. Der Workshop wird ebenfalls übertragen auf der Website des Fotomuseum Winterthur, unter der Rubrik SITUATIONS/Follower.
Workshops
5. Mai 2018, von 10 bis 18 Uhr in der Schule für Gestaltung Bern und Biel. Die Workshops finden in englischer Sprache statt.
Anmeldung: https://goo.gl/forms/xdFEbmaF8LBykixf2
Die Workshops sind gratis. Anmeldung obligatorisch bis 30.4.2018.
Falls Sie Fragen haben, kontaktieren Sie bitte digitalintern@fotomuseum.ch
Ausstellung Photographing Virtual Spaces: 6. – 27. Mai 2018
Siehe Seite auf Französisch.
Kuratorin : Elena Ese
Herstellungsjahr: 1979, 1989
In ihrer Serie “Photo Opportunities” nimmt uns Corinne Vionnet überall in die Welt mit, zur visuellen Wieder-Entdeckung verschiedener Bauwerke oder touristischer Orte. Sie sammelt aus dem Internet hunderte von Souvenir-Fotos anonymer Fotografen und legt sie in Schichten übereinander. Damit zeigt sie eine ganz neue Ansicht dieser verschiedenen Landmarks oder Bezugspunkte, die das Landschaftsbild beherrschen. Vom ersten Augenblick an erkennt man das wieder und wieder fotografierte Bild durch eine unglaubliche Anzahl von Abzügen, die offenbaren, dass sich diese Bauwerke in unser kollektives Gedächtnis drängen und zu Wahrzeichen jener Stadt oder jenes Landes werden. Reflexionen unserer Wünsche von anderswo und vom Reisen. Diese Fotomontagen verwirren unsere Blicke. Sie bringen unsere festen Vorstellungen, die wir durch gelebte oder erdachte Erinnerungen aufstellen, durcheinander, weil sie sich von der treuen Darstellung der Postkarte lösen. Dieses Sammelwerk von Abzügen befremdet, da Striche in Erscheinung treten, die zwischen Zeichnung oder Malerei zögern, und erlaubt somit eine unerwartete Umkehrung der Ordnungen. Die Präzision der Striche, die durch den Effekt der Manipulation vermindert wird, lässt paradoxerweise dieser unbeweglichen Materie einen Eindruck von Bewegung geben. Doch diese skizzenhaften Effekte machen auch die unzähligen Variationen der Erinnerungsfotos erkennbar, aus denen die Bilder zusammengesetzt sind und offenbaren Schicht für Schicht die Bedeutung jedes Blickes. Sie drücken die Spannung zwischen dem Besonderen gegenüber der einzigartigen Darstellung dieser touristischen Orte aus, die die Künstlerin möglich macht. Im Herzen einer einschlägigen Reflexion über das Medium Fotografie ermuntert uns Corinne Vionnet, die Art zu bedenken, wie wir den besuchten Orten anlässlich unserer Erfahrung ein Tourist zu sein, Sinn geben. (Julie Dorner)
Herstellungsjahr: 2006-2010
Corinne Vionnet
Die Panoramaansichten der Städte Biel, Bern, Genf und Kairo sind keine gewöhnlichen Panoramabilder. Sie verschaffen nicht einfach Überblick, sondern verursachen ein schwindelerregendes Gefühl, weil sie das Gewohnte fremd erscheinen lassen. Das liegt daran, dass jeder Versuch, den einen richtigen Blickwinkel zu finden, scheitert, da der Fotograf uns Rundumsichten dieser Plätze und Stadtteile bietet, die den Blickwinkel auf mehr als 360° erweitern. Das bewegte menschliche Auge erfasst einen Blickwinkel von 140°. Dazu benötigt Arno Hassler eine selbstgebaute Panoramakamera, ein drehbarer Zylinder mit kontinuierlicher Rundumbelichtung. Als Zylinderpanorama aufgenommen, wird das Bild vor dem Betrachter zweidimensional ausgebreitet. Was er sonst nur erfassen kann, indem er sich einmal um die eigene Achse dreht, ist jetzt von einem Standpunkt aus erfassbar. Seine Wahrnehmung ist gefordert, denn in diesen Bildern herrschen eigene Gesetze der Bildkomposition. Kein Fluchtpunkt leitet den Blick, verschiedene Tiefen sind auszumachen, Horizontlinien verschieben sich. Die Überschreitung des 360°- Winkels hat zudem eine Überschneidung von Anfang und Ende zur Folge. Die Illusion einer fortdauernden Bewegung wird durch Wiederholung verstärkt. Während der Zeitdauer der Belichtung verändert sich die Ausgangssituation: Bewegte Objekte befinden sich am Ende der Aufnahme an einem anderen Ort. (Marina Porobic)
Herstellungsjahr: 2007-
Arno Hassler
Die Serie “OutWest” ist entstanden aus der Begegnung zwischen Christian Lutz und der Familie Davis. Im Auftrag einer Schweizer Filmproduktionsgesellschaft hielt er sich für einen Ortstermin in der Alvord-Wüste im US-Bundesstaat Oregon auf und fand dabei Interesse am Leben der Familie Davis, die in der Viehzucht tätig ist. Es ist die Geschichte des Zusammentreffens mit Paul, dem obersten Boss des Betriebs, und mit seinem Verwalter, dem Cowboy Mike. Es ist aber auch die Geschichte ihrer 3500 Rinder, die über eine Fläche von 160’000 Hektaren verteilt sind, und die Geschichte von Tony, der Gemahlin des Chefs, und ihrer fünf Kinder. Der Fotograf setzte sich während zweier Jahre (zwischen 2006 und 2008) intensiv mit der Familie auseinander: In dieser Zeitspanne besuchte er die Familie und die Alvord-Wüste, jenes Universum der modernen Cowboys, viermal. Die Bildserie zeigt uns die Familie Davis und wie sie als Cowboys im Westen der USA lebt und arbeitet. Die Boots, die karierten Hemden und die Westernhüte, die sie tragen, bedienen Clichés. Aber Christian Lutz blickt tiefer. Er bringt uns diese in der Abgeschiedenheit der Wüste lebende Familie näher, die sich gegen eine lebensfeindliche Umwelt behaupten muss, aber gleichzeitig voller Begeisterung für ihre Arbeit ist. Die Bilder, die den Alltag der Familie einfangen, sind realistisch, manchmal sogar brutal. Das Leben, das die Familie führt, erscheint verglichen mit dem Leben, das die meisten anderen in Amerika führen, anachronistisch. Was der Fotograf besonders herausstreicht, ist die Koexistenz, das gleichzeitige Nebeneinander dieses ursprünglichen Amerikas mit der modernen amerikanischen Gesellschaft. Die Weite des Landes, der Raum, die Natur: Das ist der Lebens-Rahmen dieser Menschen, die aus einem Western stammen könnten – und doch nicht in das Genre passen. Die Verbundenheit der Familie mit dem american way of life ist unverkennbar, allerdings fehlt ihnen das Wissen und Können, diesen american way maximal zu ihren Gunsten nutzen zu können – sie verfügen nicht über die dazu notwendige Bildung. Am liebsten sind sie bei und mit ihren Tieren. Aus dieser Ambivalenz zwischen einer nicht zu bändigenden Natur und dem profunden Wissen über Tiere entsteht eine gegenseitig geteilte Energie – in, dank und mit dieser Energie leben die Cowboys fort. In dieser Serie von Fotografien hinterfragt Christian Lutz das ursprüngliche Amerika, das in seinen eigenen Mythen erstarrt ist. Die Bilder zeigen genau den Schnittpunkt zwischen einem Phantasiebild des amerikanischen Westens und dem, was tatsächlich ist. Das eigentliche Thema verbirgt sich gleichsam hinter der Familie Davis und ihren Aktivitäten. Auf den Bildern werden einfache, schöne, essentielle und althergebrachte Momente festgehalten, ohne dabei einem ganz bestimmten Cliché zu verfallen, jenem Cliché von einem Amerika nämlich, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. (Fabienne Bideaud)
Herstellungsjahr: 2006-2008
Christian Lutz
Berge. Fast bildfüllend. In zurückhaltender Farbigkeit. Zwei- bis Dreitausender. In gedämpfter Lichtstimmung. Imposant. Ästhetisch. Malerisch. Roger Frei fotografiert an Orten geringer «Lichtverschmutzung» mit dem vom Mond reflektierten Sonnenlicht als einziger Lichtquelle. Unter Verwendung von analoger Fototechnik belichtet er seine Fotos bis zu zwei Stunden. Mögliche Kamera-Standorte hat er vorher anhand dreidimensionaler digitaler Karten ausgewählt und sie tagsüber in der Landschaft aufgesucht. Um sie nachts wiederzufinden, hat er die geeigneten Standorte in seiner GPS-Software markiert. Auf vielfältige Weise ist die Zeit Freis Bildern inhärent. Entstanden vor 135 Millionen Jahren, ist die Alpenauffaltung als Motiv ebenso zeitlos wie die verwendete Lichtquelle, die nach Naturgesetzen wiederkehrende Intensität des «Mondlichtes». Die lange Entstehungszeit der Alpen, die zu einer grossen Vielfalt an Formen und Schichten geführt hat, bedingt ihre Wesenszüge; ebenso die scheinbare Gleichzeitigkeit mehrerer Jahreszeiten. Herbstliches Gelb-Grün neben winterlichem Weiss. Auf den Bildern zeigt sich die Zeit in ihrer Ausdehnung unmittelbar. Die lange Belichtungszeit, die nur ein bis zwei Bilder pro Nacht ermöglicht, reiht sich ein in diese dauernden Prozesse. Als fortsetzbares Langzeitprojekt ist Freis Serie wiederum zeitlos, aber ebenso zeitgebunden. Denn abhängig von verfügbarem Licht (nur die Nächte um die Vollmondphasen sind «hell» genug) und idealen Wetterverhältnissen (keine Wolken, kein Wind) gibt es nur wenige Nächte im Jahr, um diese Fotos zu machen. Das Ergebnis wird erst nach der Zeitverzögerung durch die Filmentwicklung sichtbar. Roger Frei, der auch auf die Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts verweist, schafft Bilder wohltuender «Langsamkeit» im Kontrast zur gegenwärtig verbreiteten Geschwindigkeit des Abbildens. (Mariana Forberg)
Herstellungsjahr: 2009-
Roger Frei
Das chinesische Künstlerduo hat im Rahmen der Residenz des Programms SMArt während drei Monaten in Monthey, im Wallis, gearbeitet. Bei ihrem Aufenthalt haben die beiden die Verbindungen und die Spannungen zwischen Individuum und Natur untersucht. Aus ihren Recherchen hervorgegangen sind verschiedene Produktionen, die sie direkt in der Natur oder mithilfe von Objekten realisiert und von ihren langen Wanderungen ins Atelier zurückgebracht haben. Ihre Installation besteht aus verschiedenen Werken: Landschaftsfotografien, Bilder, die anhand von lichtempfindlichem Papier realisiert wurden, das sie direkt in der Natur den Witterungseinflüssen aussetzten, sowie Audiovisuelle- und Klangproduktionen. Durch seine Arbeit erkundet das Künstlerduo die Frage der Darstellung der Landschaft durch verschiedene Einstellungen und Techniken mit dem Ziel, einen poetischen Dialog mit den Naturelementen zu generieren. Die Werke, die aus ihren Erkundungen hervorgegangen sind, erinnern an die Vergänglichkeit der Dinge, die Zerbrechlichkeit der Natur, aber auch an ihre Reaktionsfähigkeit und Stärke.
Dank einer Zusammenarbeit mit dem SMArt Programm werden wie Künstler Wu Yumo & Zhang Zeyangping auch in der Galerie du Théâtre du Crochetan in Monthey ausstellen (7.05-15.07.2022).
Plakat
Herstellungsjahr: 2021-2022
Die Arbeit von Ilir Kaso lässt sich einreihen in die in letzter Zeit stark aufkommende Kategorie «animierte Bilder». Die heute unter dem Begriff Morphing oder Morphose geläufigen Bilder sind das Ergebnis eines flüssigen und stetigen Übergangs von einem Ausgangs- zu einem Endbild. Die animierten Bilder haben sich in den letzten Jahren im Film und dann im Internet stark durchgesetzt, bevor sie von der Kunstwelt aufgenommen wurden. Der Künstler steigert die Wirkung der Morphose weder mit Ton noch mit Farbe. Die auf der Porträt der Mutter des Künstlers vorgenommenen Veränderungen laufen langsam und diskret ab. Die Veränderung ist zwar ein Resultat der verstreichenden Zeit, trotzdem ist es für den Betrachter schwierig nachzuvollziehen, wie die Veränderung genau vonstattengeht. Die Morphose kann erst bei einem zweiten Anschauen richtig erfasst werden. Zwar bleibt die Zeit die Hauptdarstellerin der Arbeit, aber die Mutter spielt ebenfalls eine zentrale Rolle. Oft ist die Zeit ein gefürchtetes Übel, wenn es um die Liebsten geht – wie hier, wo es um die Mutter geht. Während es in Wirklichkeit eine bestimmte Zeit dauert, bis die Veränderungen sichtbar werden, bildet die Morphose den Vorgang gerafft ab. Dennoch behält die Mutter ihr lächelndes und fröhliches Gesicht. Unabhängig davon, ob es darum geht, das Vergehen der Zeit zu akzeptieren oder darum, die Zeit zu stigmatisieren: Der Künstler entscheidet sich dafür, die Zeit in den Bildern einzufangen und sie damit als unabänderlich festzuhalten.
Herstellungsjahr: 2007
Ilir Kaso
Im morgendlichen Nebel erahnt man die Silhouette einer Frau. Wie eine Seiltänzerin bewegt sie sich auf dem Rand eines Steinbassins Schritt für Schritt vorwärts. Die gleiche Silhouette erscheint auch an anderen Orten, wirft einen Schatten auf die kahle Architektur aus Beton oder studiert ihr Spiegelbild in der flachen Oberfläche eines Sees… Diese Momente sind wie Erinnerungen an ein Kinderspiel, wo man sich selbst erstmals erstaunt als Teil dieser Welt wahrnimmt. Fast unmerklich vereinnahmt die menschliche Präsenz die Landschaft, gleitet hinein ohne Aufprall. Eine Haltung, eine sanfte Geste… und ein gegenseitiges Verständnis erwacht. Ein Schattenwurf, ein entrücktes Objekt oder eine einfache Spiegelung: der Eingriff des Wesens in seine Umwelt ist immer sehr klein. Die körperliche Spur wird manchmal nur indirekt oder als Projektion hinterlassen. Berührungspunkte offenbaren sich, Banden knüpfen sich von selbst und diese kleinsten Räume werden zu Territorien der Selbstbeobachtung. Loan Nguyen setzt sich als Akteurin dort in Szene, wo Versöhnung zwischen Natur und Kultur wahrscheinlich ist. Im Verlauf der Tableaux wird jedoch keine Erzählung deutlich und von ihr selbst wird nichts gesagt. Kein Wille zur Selbstdarstellung, nur der Wille zur Fähigkeit die Landschaft treffend zu interpretieren. Dieser dringt in intime Sphären, indem er zur inneren Landschaft wird. Fern jeglicher anthropozetrischer Betrachtungsweise kommt der Umwelt und ihren Bewohnern die gleiche Aufmerksamkeit zu, ohne Dominanz des einen über den andern. Der Mensch findet hier seinen Platz als Teil eines Ganzen, er erkennt seine eigene Existenz zur gleichen Zeit wie er die Existenz der Welt erkennt. Subtile Bildvorschläge für zahlreiche poetische Visionen.
Raphaëlle Stopin
Loan Nguyen
Andri Pols Fotografien haben eines gemeinsam: sie erzählen uns alle eine Geschichte, bei der die Menschlichkeit im Mittelpunkt steht. In seiner Gesamtheit gleicht das Werk des Fotografen demjenigen des Anthropologen. Durch unscheinbare Einzelheiten lässt er uns “den Anderen” entdecken, der gleichzeitig ganz nah und doch so fern ist.
Die Bilder, die er uns gibt, sind weder fugenlos noch beliebig. Ob er uns auf eine Entdeckungsreise zur verborgenen Seite einer Schweizer Postkarte mitnimmt oder in die Kulissen des Lebens der Sumoringer, der lebendigen japanischen Götter, Andri Pol versteht es, uns zu überraschen. Dank wirkungsvollen Bildausschnitten und einer Meisterschaft des “entscheidenden Momentes” wirken seine Fotografien zuweilen wie inszeniert. Der Künstler liebt es, mit Klischees und Traditionen zu spielen, indem er ein Detail hervorhebt oder den Blick auf die sonst verborgene Rückseite lenkt.Durch das Enthüllen des Sandkorns, das die Maschinerie der Welt, die soeben noch gut geschmiert erschien, ins Stocken gebracht hat, ermöglicht uns Andri Pol einen anderen Blick. Zwischen Schatten und Licht ist seine Sicht der Wirklichkeit von Humor und Spott gefärbt. Seine Bilder erhalten dadurch einen spielerischen Charakter, ohne in Leichtsinnigkeit und Oberflächlichkeit zu verfallen. Der Betrachter wird von Andri Pols Serien in einen erzählerischen Strudel gezogen und beginnt plötzlich von alleine, den kleinen Bruch, die Verschiebung, die zweite Stufe zu suchen. (Carine Steiner)
Herstellungsjahr: 2006
Adri Pol
Lächelnde Gesichter, umgeben von lebhaften, oft grellen Farben, das sind die Bilder, die wir von der Kindheit haben. Mit der Serie “Made of Stone” stellt sich Sophie Brasey gegen dieses Stereotyp und wirft einen neuen Blick auf einige Kinder unserer Zeit. Kein Lächeln mehr, keine strahlenden Augen, sondern leere Blicke, nachdenkliche, anklagende, unruhige, auch ernste. Grautöne verstärken die gedrückte Stimmung, welche durch die Kinderblicke geschaffen wird. Beim Betrachter erwecken sie Unbehagen. Als einzige lebhafte Farbe erinnert das klare Blau des Himmels an eine idealisierte Kindheit, eine allgegenwärtige, unerreichbare. Diese Kinder, weit entfernt von einer sorglosen Jugendzeit, wurden fotografiert in einer Umgebung, die zwar die ihre ist und in der sie sich eigentlich geschützt fühlen sollten: in der Schule. Dennoch scheinen sie auf ihren Schultern bereits die ganze Last des Erwachsenenlebens zu tragen. Darin zeigt sich die Ironie unserer Epoche, in der die Erwachsenen ihren Verpflichtungen ausweichen und die sorglose Jugend idealisieren, während umgekehrt von den Kindern verlangt wird, dass sie immer schneller gross und reif werden.Dieses Phänomen unserer Gesellschaft interessiert Sophie Brasey, die den Standpunkt des Kindes einnehmen will, der oft vernachlässigt oder durch die Erwachsenenperspektive verfremdet wird. Sophie Brasey räumt auf mit dem Klischee vom “infantilisierten” Kind und zeigt uns, dass bereits ein Fünfjähriger scharfsinnig die Probleme erkennen kann, die uns umgeben und dass er sich Fragen stellt über das Leben, über die Zukunft. (Noémie Richard)
Herstellungsjahr: 2007
Sophie Brasey
Lisa Roehrich befasst sich mit minoritären oder stigmatisierten Gesellschaftsgruppen und mit der Art und Weise, wie sich die Individuen, aus welchen sich diese Gruppen zusammensetzen, selbst darstellen. In ihren ersten Arbeiten setzte sie sich mit Skinheads, mit Zigeunern und auch mit Models auseinander und unterzog dabei die Stereotypen, über welche diese Gruppen normalerweise definiert werden, einer näheren Prüfung. Mit der Absicht, die künstlerische Aussage weiterzuentwickeln und sich vom subjektiv-dokumentarischen Ansatz der Anfänge zu entfernen, entscheidet sich die Künstlerin 2008 dafür, Videos einzusetzen und ihre Sujets nach Art der «Screen Tests» von Andy Warhol zu filmen. Anders als ihr berühmter Vorgänger, der mit den Filmporträts seine Faszination für Berühmtheiten ausdrückte, wendet sie das Verfahren mit unbekannten oder besser: nicht-berühmten Personen an. Erstaunt über das Bild, das junge Leute abgeben und ihre Art, sich in der Gesellschaft darzustellen, richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf die Jugendlichen, konkret auf solche, die sich regelmässig vor Einkaufsflächen in «ihrer» Stadt treffen. Die Protagonisten werden aufgefordert, sich so darzustellen, wie sie es gerne wünschen. Vom Formalen her tragen das Video und die Vorgaben für den Dreh zur Dramatisierung des Sujets bei, sie verstärken seine Präsenz im Bild, andererseits akzentuiert der Einsatz der Zeitlupe die Unterschiede zum Standbild. An diese Arbeit anschliessend begab sich Lisa Roehrich in den Libanon und analysierte dort die Selbstdarstellung der Jugendlichen, die in einem politisch-religiösen Umfeld leben, das dem Ausdruck der eigenen Identität nur wenig Raum lässt. Für die Ausstellung an den Bieler Fototagen 2011 besucht sie erneut Jugendliche in ihrer Stadt und begeht dabei neue Wege. Neben den soziologischen Komponenten, welche «Look at me» beinhaltet, setzt sich die Arbeit auch nachhaltig mit der Frage nach der Dauer des Wahrnehmungsprozesses und den Auswirkungen des Prozesses auf die künstlerische Äusserung auseinander.
Herstellungsjahr: 2011
Lisa Roehrich
Siehe Seite auf Französisch.
Herstellungsjahr: 2013-2015
Mit seiner Serie “Lieux d’énergie” hat sich Luca Zanier an für die Öffentlichkeit nur schwer zugängliche Orte vorgewagt: in die verborgene Welt der Atom- und Wasserkraftwerke und die Lager für Energierohstoffe. Gebäude, die sich gewöhnlich ausserhalb von besiedelten Gebieten befinden, oft unter der Erde liegen und kaum sichtbar sind. Dennoch, unsere Gesellschaft ist in ausserordentlichem Masse auf diese Energie angewiesen, die jeden Tag für die Befriedigung unserer Bedürfnisse gewonnen wird. Diese Orte sind zwar vom Menschen geschaffen, es haftet ihnen aber etwas Unmenschliches und Kaltes an. Nach einer Katastrophe wie der von Tschernobyl können wir diese Kraftwerke nicht mehr einfach als Errungenschaft des wissenschaftlichen Fortschritts betrachten. Ganz im Gegenteil: Wir fürchten sie – und sind gleichzeitig doch von ihnen abhängig.Eben diese Doppelgesichtigkeit ist es, die Luca Zanier interessiert. Sein Ziel ist es nicht, uns eine möglichst präzise Dokumentation dieser Orte vorzulegen, sondern er möchte uns anhand seines fotografischen Schaffens vielmehr auf besagte Dualität aufmerksam machen. Der Künstler zeigt eine Serie von Bildern, die stark an Science-Fiction erinnern. Die Farben und Lichter der Orte erwecken einen Eindruck von Künstlichkeit. Die Dimensionen der Installationen vermitteln zudem einen gewissen, dem Menschen eigenen Grössenwahn, der gleichzeitig fasziniert, aber auch Angst einflösst. Befinden wir uns in einer Phantasiewelt oder in der Wirklichkeit? Diese Frage könnte dem Betrachter von “Lieux d’énergie” unwillkürlich durch den Kopf gehen. (Antoine Tille)
Herstellungsjahr: 2008-2010
Luca Zanier
Während ihres Aufenthaltes in Mexiko-Stadt untersuchte Elisa Larvego kulturelle Merkmale in der gegenwärtigen mexikanischen Gesellschaft und setzte ihre Erkenntnisse fotografisch um. Die Fotos der Serie Les protagonistes zeigen Kinderfeiern wie Geburtstage, Taufe und Kommunion. Diese Ereignisse bringen besonders deutlich die Vermischung von westlichen und einheimischen Traditionen zum Ausdruck, von der die mexikanische Kultur heute geprägt ist. Im Spiel der Kinder begegnen sich Superhelden, Prinzessinnen und Figuren katholischer, sowie mexikanisch-indigener Mythologien. Als Schlüsselfiguren verkörpern die Kinder in Larvegos Bildern den Balanceakt zwischen Kulturen und Identitäten. Zahlreiche Elemente verweisen auf diese Vermischung: Indianerkostüm, Sombreros, Piñatas (mit Süssigkeiten gefüllte Figuren aus Pappmaché), Spiderman, der Halloween-Kürbis oder die Jungfrau. Wie in einem Suchbild ziehen diese Details die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich und lassen ihn an den Szenen teilnehmen. Die Zentralperspektive trägt zu dieser Sogwirkung bei und unterstreicht die Geschlossenheit der Ensembles. Aussenbezüge sind die Ausnahme. Larvego nutzt dem Theater entlehnte Elemente wie die Bühne, nach Regieanweisungen agierende Schauspieler und Requisiten. Die Wohnungen und Gärten der Kinder verwandeln sich zur Fiesta in besondere Welten mit eigener Logik. Die Ebene der Inszenierung liegt nicht nur in der künstlerischen Umsetzung, sondern schon in der Natur der Feste und ihrer Kostüme selbst. Die Fotografin schafft so Bilder mit dokumentarischem Charakter in einer Schnittmenge von Imagination und Realität.
Mariana Forberg
Elisa Larvego
Gfellers übereinander geschichtete Bildcollagen wirken am stärksten, wenn man diese aus einer genügend grossen Distanz betrachtet. Die Komposition der verschiedenen Objekte, die eben noch als Stuhl oder Kleiderständer erkennbar waren, wird jetzt zur ganzheitlichen und überraschend ästhetischen Struktur, mit Rhythmik und Farbenfrische. Wie Fische im Aquarium zeigen sich im zur Ordnung gewordenen Durcheinander nur noch zwischendurch die anonym gehaltenen, gesichtslosen, tollpatschig herumblubbernden Dérangeuses, möglicherweise auf der Suche nach ihrem Gleichgewicht. Tritt man nun wieder näher an eines der Bilder heran, merkt man rasch, dass selbst für das einzelne Bild gleich mehrere Zimmer durcheinander gewirbelt worden sind. Die verschiedenen Dimensionen und Perspektiven der übereinander gelagerten Abzüge wurden dermassen verdreht und manipuliert, dass einem davon schwindlig werden kann. Über den Verstand ist es unmöglich, in diese Unordnung Ordnung zu bringen.In gewissem Sinne selbst ständig weitersuchende Nomadin, die zuerst mit Fotografien von Wüstenlandschaften die Ferne einzufangen versuchte und sich in ihren Arbeiten unterdessen seit über zehn Jahren mit der grossstädtischen Reizüberflutung von New York und Paris befasst, sammelt Gfeller – auch in der Grossstadtwüste stetig unterwegs – weiterhin nach Materialien, die sie zu symbolhaften Mustern und Farbcollagen verwebt. Gfellers intuitiv, ja beinahe zufällig zusammengetragenen Fundstücke sind kaum noch erkennbar, doch umso imposanter ist der Gesamteindruck, der erst im hier inszenierten Make Believe wieder fassbar wird. Wenn sich Gfeller dabei von der Wüste über die Grossstadt unterdessen ins Wohnzimmer zurückgezogen hat, so wird der enge Raum nun zur introspektiven Performancebühne und Projektionsfläche für die innere Rastlosigkeit und Suche umfunktioniert. Hier wird man nun ständig erschlagen vom grossstädtischen Getöse, um gleichzeitig auf der Metaebene immer wieder aufgefangen zu werden von einer hybriden Unterwasser-Wüsten-Stille, die aus den Bildern spricht. Gfellers Make Believekulminiert hier gewissermassen im Credo, gemäss dem sich Sinn und Ordnung nur über die totale Unordnung erschliesst.
Pascal Kaegi
Catherine Gfeller
Alf Kebbell ist sehbehindert. Regelmässig, und das seit 24 Jahren, legt er in den Strassen von Elephant & Castle, Teil eines Stadtbezirks im Süden von London, den gleichen Weg zurück. Normalerweise würde er sich zur Orientierung eines Blindenstocks bedienen, diese Gegend aber ist ihm mittlerweile so vertraut, dass er diesen gar nicht mehr braucht.
Dank gewissen Orientierungspunkten (landmarks), die er in all den Jahren für sich zu nutzen gelernt hat, findet er sich zurecht. Dana Popa begleitet Alf Kebbell auf einer seiner täglichen Routen und präsentiert uns in ihrer Serie “Landmarks” eine Verbildlichung dieser Stellen, die es Alf ermöglichen, kraft seines Tast- und Gehörsinns seinen Weg in der grossen Stadt zu finden. Eine höhere Lichtintensität, ein Loch im Gehsteig oder ein Zaun sind Zeichen, die wir mit unseren Augen nicht wahrnehmen und die unseren Sinnen oft entgehen, mithilfe derer der aufmerksame Spaziergänger aber Bezüge herstellen kann. Ohne sie wäre Alf verloren.Dana Popas Bilder präsentieren uns diese Orte genau in jenem Augenblick, in dem Alf sie passiert. Den schreitenden Protagonisten zeigt uns die Künstlerin nie, vielmehr erfasst sie die jeweiligen Orientierungshilfen, indem sie diese aus ihrer Alltagswirklichkeit – der Menschenmenge und dem Verkehr – herausnimmt, und uns so ihren Zauber offenbart und ihren Wert hervorhebt. Da unsere Welt vom Sehvermögen bestimmt ist, lädt sie uns ein, dieses Viertel von London anders zu erleben: Wir folgen einer Art emotionalem Parcours, wo die Details, die uns normalerweise entgehen, in den Fokus gerückt werden. (Laura Sánchez Serrano)
Herstellungsjahr: 2006
Dana Popa
Die digitalen Plattformen sind ein Reservoir für kreative Materialien und Ausdrucksformen. Sie können aber auch als Bedrohung für unsere Wachsamkeit und unsere individuellen Freiheiten aufgefasst werden. Kann man überhaupt noch von persönlichem Ausdruck sprechen, wenn alles darangesetzt wird, unsere Aufmerksamkeit zu ergattern und unsere Emotionen auf Emoticons herunterzubrechen? Die Künstlerin Aurore Valade hat eine Klasse des französischen Gymnasiums Biel dazu eingeladen, die in den sozialen Netzwerken generierte Bilderflut mit analogen und digitalen Mitteln zu dekonstruieren. Ausgangslage für die SchülerInnen waren Screenshots im Zusammenhang mit ihren eigenen Interessen und Interaktionen in den sozialen Netzwerken. Gemeinsam haben sie anhand von analogen und digitalen Methoden die Sprache 2.0 zugeschnitten, gezeichnet und überarbeitet. Mit den so entstandenen Symbolen haben sie anschliessend posiert und wurden fotografiert. Die Bilder, die aus dieser Zusammenarbeit hervorgingen, verleihen den Emotionen und Forderungen der SchülerInnen wieder eine Körperlichkeit – mittels einer bildhaften und darstellerischen Geste. Die Fotografie ermöglicht es, eine bildliche Erinnerung an die fragilen digitalen Interfaces zu bewahren, die so oft dem Vergessen anheimfallen. Die ausgestellte Installation lädt das Publikum dazu ein, selbst im Ausstellungsraum zu posieren.
Dank der Zusammenarbeit mit HEP-BEJUNE, wurden die Porträtsaufnahmen bereits in der Ausgabe der Zeitschrift Enjeux pédagogiques N° 34 der HEP-BEJUNE publiziert.
Herstellungsjahr: 2020
«Welches ist der erste Politiker, an den du dich erinnern kannst?» Diese vom Fotografen selbst gestellte Frage zieht sich wie ein roter Faden, der immer wieder aufgenommen wird, durch die Serie «Kings of Cyan». Gezeigt werden emblematische Persönlichkeiten wie die Präsidenten Gerald Ford und Jimmy Carter, deren Bilder sich im Gedächtnis der amerikanischen Bevölkerung fest eingeprägt haben. Die Bilderserie ist eine tiefgreifende Reflexion über die Veränderungen, denen die visuellen politischen Botschaften im Verlauf der Zeit unterworfen waren. Heute werden die Strassen immer mehr mit Werbung zugepflastert, und während der Wahlkampfperiode wimmelt es von Plakaten, von denen Politiker herunterlächeln. Die Porträts bleiben im Gedächtnis der Betrachter hängen. Aber was geschieht nach der Wahl? Bleibt etwas dauerhaft hängen? Die Zeit vergeht, nagt an den Porträts und lässt die Gesichter darauf altern. Magenta und Gelb werden unter dem Einfluss des Wetters ausgewaschen, übrig bleibt die Farbe Cyan. Überrascht vom sich hartnäckig haltenden «faded blue» – mattblau – entdeckt Tim Davis in den Porträts ein Blau, das der atmosphärischen Perspektive in niederländischen Gemälden entnommen zu sein scheint. Sei es nun ein kommunistischer Politiker oder ein Neofaschist – ihre Ideen verflüchtigen sich rascher als die Tinte, die unter einer bläulichen Patina die ambitiösen Gesichtsausdrücke der Politiker durchschimmern lassen. Das innere Wesen der aufgelösten, zerrissenen und bleichen Gesichter scheint durch wie ein Phantom.
Herstellungsjahr: 2008
Tim Davis
Eine prominente Tochter, ein Griechenheld und eine elegante Stadt tragen alle denselben Namen und werden gleichsam geliebt. Soviel wird im Titel der bislang vierteiligen Serie verraten. Die Fotografien zeigen Protagonistinnen, welche den aktuellen Werbebildern entsprungen zu sein scheinen, mit ihren schlanken Beinen und nackten Schultern, der glamourösen Kleidung und Accessoires. Zwei der vier jungen Frauen sind festlich gekleidet, die anderen beiden tragen Unterwäsche. Bei allen ist der Blick zwischen die Beine denkbar nah und doch meisterhaft verstellt. Corinne L. Rusch bewegt sich mit Sicherheit in der glitzernden Welt der Prominenz. Sie kennt deren Bilder und weiss diese in ihrer Arbeit überzeugend zu imitieren. Ihr Interesse gilt jedoch den Schattenseiten dieser scheinbar heilen Welt, welchen sie sich mit kühler Distanz widmet. Die Haltung der fotografierten Beauties hat nichts mehr gemein mit dem Catwalk-Gang der Models oder dem Kamera-Lächeln der Prominenten. Sie scheinen zusammengebrochen nach exzessiven Parties, haben sich übergeben im Schlankheitswahn, ertragen den Erfolg nicht mehr. Eigene und fremde Erwartungen und der daraus resultierende Druck, das stete Streben nach oben und die Fassade, hinter der sie ihr mangelhaftes Ich permanent verstecken, bis sie es selbst nicht mehr kennen, haben sie ausgehöhlt. Versöhnlich ist einzig, mit welcher Ästhetik Rusch auch diese elenden Situationen zeigt. Einmal ergänzt die ausgestossene Körperflüssigkeit die Ornamente des abstrakten Hintergrundes in perfekter Weise, ein anderes Mal ist die Symmetrie des Körpers so fragil, dass man beinahe die Luft anhält und auf dem einzigen Bild, welches im Aussenraum aufgenommen wurde, sind die Tannen von märchenhafter Morgensonne beschienen, und die verlorenen Stöckelschuhe unterscheiden sich kaum mehr von den Tannenzapfen auf dem Waldboden. Corinne L. Ruschs Bilder stellen die im Titel konstatierte Liebe zum gesellschaftlichen Erfolg durch Schönheit und Prominenz in Frage, ohne sie jedoch zu verleugnen.
Nora Fiechter
Corinne L. Rusch
Es heisst, die Augen seien der Spiegel der Seele und ein Blick verrate uns die Tiefen der menschlichen Natur. Wenn sich zwei Blicke kreuzen, entsteht ein erster Kontakt. Dieser intime, besondere Moment ist der Ausgangspunkt der Serie “Iris 732”. Nebst dieser tiefen, verräterischen Dimension des Auges interessiert sich Florian Zellweger auch für die ästhetischen Qualitäten des Auges: jede Iris ist ein Sammelsurium unterschiedlichster und einzigartigster Farben. Der Fotograf hinterfragt die menschliche Wahrnehmung: das Auge, das Organ des Sehens, wird zum Objekt der Betrachtung. Als Teil des Bildes verliert das Auge seine Eigenschaften, wird bis zur Abstraktion entfremdet. Das Auge wird aber auch klinisch betrachtet. Der Fokus auf die Iris und das grosse Format eröffnen den Blick auf die kleinsten Details des Organs. Die Wahl der digitalen Technik führt dazu, dass das Bild kalt und distanziert wirkt. So entsteht dann auch das Gefühl der Objektivität. Der Name der Serie, “Iris 732”, erinnert an einen Asteroiden und schafft so eine Verbindung zwischen der Iris und den Himmelskörpern – ein weiteres Element, mit dem es gelingt, die Aufmerksamkeit des Betrachters vom effektiven Beobachtungsobjekt abzulenken. Diese Augen werden somit zu Formen und Farben mysteriöser und geheimnisvoller Herkunft. Bilder, welche die Phantasie anregen. (Valeria Donnarumma)
Herstellungsjahr: 2007
Florian Zellweger
Zwischen Schule und Familie befindet sich immer der Schüler. Diese Beziehung, die durch das System auferlegt wird, kann reich und einfach, aber auch angespannt und komplex sein. Es erfordert viel Energie und Aufmerksamkeit, um einen Dialog zu fördern, der dazu beiträgt, Missverständnisse abzubauen. Die Realität des Lebens ist immer komplexer, als das öffentliche Bild zeigt. Es ist notwendig, die Wahrheit in den Falten des Lebens zu suchen, damit falsche Wahrnehmungen nicht zu einem tödlichen Geschwür in der Beziehung werden. Das Verständnis des Anderen in seiner Komplexität macht es möglich, ihn nicht auf das Ideal zu reduzieren, das wir uns wünschen, und es ist für die Entwicklung eines jeden Menschen unabdingbar.
In Zusammenarbeit mit HEP-BEJUNE.
Zehn Fotografien aus der Serie In-between wurden in der Zeitschrift Enjeux Pédagogiques veröffentlicht. Die Zeitschreift können Sie hier herunterladen.
Herstellungsjahr: 2018
Das Verbrennen von “Totengeld” aus Bambuspapier ist traditioneller Bestandteil des Ahnenkultes und der Totenfeierlichkeiten in China. In manchen Gebieten werden den Verstorbenen auch Gegenstände aus Papier dargereicht; Autos, Kleider, Uhren. Durch die Opfergaben soll ihnen ein besseres Leben nach dem Tod ermöglicht werden. Unter dem Einfluss der Konsumkultur werden die Papieropfer in letzter Zeit immer extravaganter: Mikrowellenöfen, Flugzeuge, Luxusvillen mit Swimmingpools. Die Praxis ist offiziell verpönt, wird von der Regierung aber geduldet. Erst seit an den Verkaufsständen bei einigen Friedhöfen Viagra, Prostituierte und Zubehör fürs Glücksspiel aus Papier auftauchten, wurden die Kontrollen etwas verschärft.Die Gegenstände stellen eine liebevoll-unpräzise Kopie der Realität dar; entrückt, imaginiert. Sie bestehen nur aus Oberfläche, im Innern sind sie leer. Es geht offensichtlich nicht darum, die Dinge bis ins letzte Detail zu reproduzieren, sondern darum, ihren Geist zu erfassen. Die Fotografie reproduziert die Objekte ein zweites Mal, indem sie ihre Oberfläche bis ins Kleinste abtastet: Spuren des Falzbeils, erstarrte Leimtropfen, zerknitterte Silberfolie. Beide Ebenen der Reproduktion bleiben auf ihre eigene rührende Weise unvollständig. Beide sind ganz Relation, nur ein Hauch von Materie. Aus westlicher Sicht besteht die Tendenz, beständig nach dem wahren Kern der Dinge zu fragen, und “Betrug!” zu rufen, wenn man ihn nicht findet. Für Konfuzius können nur soziale Übereinkünfte den Wert einer Sache bestimmen, und eine Antwort darauf geben, ob eine Handlung angemessen ist oder nicht. Aus der Sicht des Universums gibt es kein wahr und falsch. Das menschliche Zusammenleben erhält seine Form durch den Respekt für li (Ritual und Konvention). Rituale sind zentral, denn sie sind der eigentliche Ursprung von Bedeutung und Wertschätzung. (Simon Stähli)
Herstellungsjahr : 2010
Kurt Tong
Fotografie kann heutzutage auf einer Vielfalt von Materialien dargestellt werden: von Druck zu Pixeln, von Seiten zu Bildschirmen, von statisch zu bewegt. Welche Chancen und Gefahren bieten sich Bild-Machern und Herausgebern, welche die hybride Natur der Fotografie ergründen möchten? Welche zeitgenössischen Praktiken kommen zum Einsatz bei der Arbeit und Verbreitung von fotografischen Inhalten? Was heisst «herausgeben» konkret im Zeitalter der Informationsüberflutung, und welche alternativen Publikationsstrategien gibt es für das neue Bild? Auf welche neuen Plattformen kann der «Post-Fotograf» zurückgreifen?Vier Künstler wurden eingeladen, diese Themen im Rahmen einer Serie von Workshops, die auf eine kleine Gruppe von Profis (Fotografen, Verleger, Kuratoren…) zugeschnitten sind, zu diskutieren und mit den Teilnehmenden Werke zu kreieren. Die Ergebnisse aus den Workshops werden später anlässlich des Festivals der Öffentlichkeit gezeigt.
Kuratorium: Marco de Mutiis und Hélène Joye-Cagnard
Image+ wird realisiert in Zusammenarbeit mit dem Fotomuseum Winterthur und dessen Programm SITUATIONS.
Teilnehmende Künstler:
Sebastian Schmieg (1983, Deutschland) untersucht die Art und Weise, mit der moderne Technologien Online- und Offline-Wirklichkeiten darstellen und setzt sich auch mit der verborgenen Logik und Politik des algorithmischen Bilds und der Computervision auseinander.
sebastianschmieg.com
Kamilia Kard’s Werk konzentriert sich auf die Konstruktion von Identität im Internet-Zeitalter. Sie zeigt das Werk in verschiedenen Medien, mit fliessenden Übergängen von Malerei zu Video und animierten GIFs, Prints und Installationen. (1981, Ungarn/Italien)
kamiliakard.org
Ola Lanko (1985, Ukraine) lotet Parallelwissen und -geschichten aus, die durch Bilder, Big Data und den freien Zugang zu Information konstruiert werden. Sie arbeitet mit Metaphern und Bezügen, die sie in nicht-linearen Narrativen neu arrangiert.
olalanko.com
Emmanuel Crivelli (1985, Schweiz) ist ein Editorial Designer, der mit Fotografie, Illustrationen und Text spielt. Er deckt ein breites Spektrum ab, von Postern für die Oper bis zu vierteljährlichen Publikationen zum Thema Gender und Sexualität.
dualroom.ch
Workshop: 6. Mai 2017, 10–18 Uhr
Die Workshops sind gratis und werden in englischer Sprache abgehalten.
Anmeldung: demutiis@fotomuseum.ch
Ausstellung Image+: 12. – 28. Mai 2017
Vernissage: 11. Mai, 18 Uhr
Ort: Chipot
Teilnehmerliste
Emmanuel Crivelli
Natalia Mansano
Miriam Elias
Kamilia Kard
Dana Popescu
Jonas Kambli
Marie-Pierre Cravedi
Ola Lanko
Damien Sivier
Massimo Piovesan
Karina Munch Reyes
Marion Nitsch
Rosario Mazuela
Thomas Nie
Sebastian Schmieg
Simon Tanner
Patrick Pfeiffer
Rebecca Bowring
Siehe Seite auf Französisch.
Herstellungsjahr: 2012-2014
Die in der ganzen Welt realisierten Bilder sind das Ergebnis von Performances, in denen das Individuum mit seiner Umgebung verschmolzen und dadurch aufgelöst wird.
Das Festival Images in Vevey zeigt circa zehn Werke aus derselben Serie. Die Bilder sind monumental an Häuserfassaden in der Stadt aufgehängt. www.images.ch
Herstellungsjahr: seit 2005
Die Fotos des peruanischen Kollektivs LimaFotoLibre faszinieren uns mit ihrer Frische und Spontaneität. Das Kollektiv entstand vor fünf Jahren, als vier Freunde die Idee hatten, auf ihrer Internetseite die Veränderungen einer sich im Umbruch befindlichen Stadt (Lima) aufzuzeigen. Als wären sie ein Bildlabor, wandern die Fotografen die Strassen der Metropole ab und halten mit ihren Digitalkameras fest, was sie in dieser vielgestaltigen Stadt sehen. Die Bilder, die sie auf ihren täglichen Streifzügen aufnehmen, zeigen uns Dinge und Vorkommnisse, die uns sonst nicht auffallen würden: kaum merkliche Veränderungen, kleine anekdotische Details, die normalerweise von der Alltagsroutine, dem Betrieb und dem Chaos, die in dieser Grossstadt herrschen, kaschiert werden. Das Kollektiv LimaFotoLibre, selbst ein Bestandteil dieser Populärkultur, nutzt die Stadt nicht nur als Inspirationsquelle, sondern auch als Ausstellungsort. Bekannt wurde das Kollektiv dadurch, dass es Tausende von Abziehbildern und Fotokopien von ihren Fotos in den öffentlichen Verkehrsmitteln, kommerziellen Galerien, Parks und Strassen der peruanischen Hauptstadt aufklebten resp. aufhängten. Sie verstehen sich als volksnahes Kollektiv und leben diese Überzeugung, indem sie in die Stadt eintauchen und sich auf das Publikum einlassen, das selber aktiv wird und an der Diskussion, die durch die Bilder ausgelöst wird, teilnimmt. «Haciendo Hora» (Zeit totschlagen) bezieht sich auf verschiedene Begriffe von Zeit: die anekdotische Zeit, die von den Veränderungen zeugt, welche eine Person oder eine Örtlichkeit lokal betreffen; die Zeit, während der die Fotografen eine Bildserie realisieren; die Zeit, die ihre Vorgehensweise visuell hervorbringt – und die Zeit, in der die Betrachter das Bild anschauen.
Herstellungsjahr: 2011
LimaFotoLibre
Das Duo hat sich neben Skulpturen, Installationen auch auf fotografische Objekte spezialisiert. So hat es in Growhomes (2007) Blumenkästen gebaut, deren Wände Häuserfassaden darstellen, und diese in einen fensterlosen Kellerraum gestellt. Dank konstantem Gewächshauslicht und Bewässerung wucherte das gepflanzte Unkraut forciert. Die installative Arbeit karikiert eine fragile, schnell kollabierende Hausgemeinschaft, bei der bloss noch potemkinsche Strassenzüge mit seelenlosem Innenleben übrig bleiben.Die Widersprüchlichkeit, respektive die Sinnbildhaftigkeit manifestiert sich auch in der Serie Factoiden (2005/ 2006). Hier werden Strassenmodelle aus Karton so zur Kamera in Position gebracht, dass sie wie eine real endlose Strasse wirken, das eine Mal auf einen Horizont hin ausgerichtet, ein anderes Mal als ewiger Kreisel in unwirtlicher Landschaft. Die Strasse wird so gelegt, wie man sie haben möchte, nicht wie sie tatsächlich ist. Die Täuschung ist eine kameraimmanente Konstruktion, fotografisches Sehen immer auch eine erzwungene Blickrichtung. Dass goldene Fritten es in sich haben, je nach Setzung und Aufnahmewinkel als Zaun am Grand Canyon oder beim Erfahren der Welt als Highwaygirlande zu fungieren, ist eine Metapher des brüchigen und etwas unbekömmlichen Fastfood-Reisens und nicht nur ein fotografischer Kalauer. Diese durchwegs analog erstellten, fotografischen Fata Morganas, Trugbilder, Zirkelschlüsse, Sehfallen und emblematischen Denkfiguren führen nämlich den Beweis, dass unsere Vorstellung von Wirklichkeit, wie schon zu Zeiten der Geisterfotografie, vor allem auch Einbildung und Glaube ist, die auf Wirkung basieren. Perspektive ist dabei ein ästhetisches Mittel, diesen Glauben auf stupende Art zu bekräftigen: Image ist ein Anagramm von Magie.
Fritz Franz Vogel
Taiyo Onorato & Nico Krebs
In der Serie “Greenland, Climate tourisme and displaced communities” (Grönland, Klimatourismus und umgesiedelte Gemeinschaften) zeigt uns Alban Kakulya durch sein Objektiv die aktuelle Situation in Grönland, dem “grünen Land”, der grössten Insel, die seit ihrer Teilautonomie nach der eigenen Identität sucht. Der perfekten Schönheit der Eislandschaft, die an Modelllandschaften erinnert, stellt der Fotograf die soziale Realität des Landes gegenüber. Farbige Fertighäuser, seit 1960 Wohnfläche für die autochthone Bevölkerung, für welche die Regierung keine Mittel findet, um sie zu unterstützen, kontrastieren mit der reinen und massiven Natur. Gleichzeitig beobachten wir auch Veränderungen, hervorgerufen durch den Tourismus und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen wie Öl und Gas, einer der möglichen Wege zum wirtschaftlichen Fortschritt. Doch stellt dieser Fortschritt nicht eine Gefahr für die Natur dar? Opfern wir nicht die letzten unberührten Zonen des Planeten? Der Identitätsverlust, die Isolation und das Bedürfnis nach wirtschaftlicher Anpassung sowie das Recht auf Fortschritt sind nur einige Themen, die diese Serie anspricht, in der Stille und die beinahe Nicht-Existenz des Menschen von den Veränderungen zeugen. (Laura Sánchez Serrano)
Herstellungsjahr: 2009
Alban Kakulya
Anthony Ayodele Obayomi was the first winner of the Taurus Prize for Visual Arts. His winning project in progress is being shown as part of the festival; the finished work will subsequently be exhibited in autumn 2021 at the Photoforum Pasquart. Obayomi is interested in the ways in which religious institutions and gambling organizations work on people’s minds, especially among the very poor. In his installation, he questions the commercialization of hope in the face of the daily struggles of the population of Lagos, Nigeria, in a context of lack of resources and limited purchasing power.
Year of production: 2019-
Schon Monate vor dem G8-Gipfel von 2003 in Evian wurde in den Medien der Romandie die Furcht vor gewaltsamen Ausschreitungen durch Globalisierungsgegner geschürt. Die Berichterstattung kreiste vor allem um die Kosten für öffentliche Sicherheit und um Fragen der Haftung bei den erwarteten Vandalenakten. Die Verunsicherung nahm ein solches Ausmass an, dass sich zahlreiche Geschäfte in den Innenstädten von Genf und Lausanne dazu entschlossen, ihre Schaufenster und Eingänge für die Dauer des G8-Treffens zu verbarrikadieren. Nicolas Savary fotografierte diesen aussergewöhnlichen Zustand in beiden Städten. Blinde Flächen überall – was normalerweise darauf aus ist, zu verführen, weist den Blick jetzt ab. Statt kunstvoll beleuchteter Auslagen: rohe Verschalungsbretter. Der sonst unbeachtete Rahmen des Konsumspektakels, das Drum und Dran, drängt sich in die Wahrnehmung. Details an Hausfassaden springen ins Auge: Profilierte Simse, von jemandem liebevoll gestaltet. Schwarzer Sohlenabrieb von Millionen Schuhen. Graffiti. Billig gebaute Zweckarchitektur, hauchdünn mit Marmor verkleidet. Unvermittelt konfrontieren Savarys Aufnahmen mit dem tatsächlichen Gesicht von Orten, durch die wir uns täglich bewegen, welche aber für uns kaum Existenz haben. Hunderte von Quadratmetern von Pressspan, gemasertem Sperrholz und honiggelben Verschalungsbrettern: Was aussieht wie moderne Kunst (Christo, Wolfgang Laib) hat seinen Ursprung in reinem Zweckdenken. Savarys Bilder dokumentieren die greifbaren Manifestationen der Habgier und der Angst. Es ist eine melancholische Szenerie, die sich uns darbietet. Und trotzdem hat die Realität, von Illusionen befreit, etwas Versöhnliches. (Simon Stähli)
Herstellungsjahr: 2003
Nicolas Savary
Ola Lanko wirft in ihrer Installation einen neuartigen Blick auf die Zeit und lädt dazu ein, die künstlich hergestellte Natur von Zeit zu ergründen. Sie beleuchtet den verborgenen und ungewohnten technischen Prozess, der hinter der Zeitmessung steckt, indem sie den Gerätschaften, die in der Uhrenmacherei verwendet werden, eine andere Rolle zuteilt. Lanko versteht das Uhrmacherhandwerk als Verkörperung der Kombination immateriell-materiell. Sie verwendet Bilder aus Archiven zur Industriegeschichte – die ihrerseits eine Zeitkapsel sind – und untersucht Zeit als physisches, geistiges, sozioökonomisches und geschichtliches Phänomen, indem sie verschiedene Perspektiven in einer räumlichen, dreidimensionalen Collage vereint.
Die Ausstellung wird im Rahmen der Archive Salavation Force organisiert, einer Initiative, die von einem Künstler gestartet wurde mit dem Ziel, bestehende Archive wieder zum Leben zu erwecken und deren potenzielle Nutzung in einem zeitgenössischen Umfeld zu ergründen.
In Zusammenarbeit mit dem CEJARE (Centre jurassien d’archives et de recherches économiques), mit Sitz in St-Imier.
Fonds Aubry Frères SA, Fonds Schäublin S
Herstellungsjahr: 2017
Als wäre die Zeit stehen geblieben, weisen die Bilder von Fabian Hugo eine ganz besondere Stimmung auf: ein angedeutetes Ungleichgewicht, etwas, das die Neugier weckt. In den alltäglichen oder banalen Situationen, die er mit seiner analogen Kamera aufnimmt, scheint das Unvorhergesehene ein Parameter zu sein, mit dem sich der Künstler gerne auseinandersetzt. Für die Fotoserie Formed Waters hat Fabian Hugo mit zwei Klassen des Gymnase français de Bienne zusammengearbeitet. Die Studierenden schlüpfen dabei in verschiedene Rollen und stellen sich als Sujets zur Verfügung. Für die Aufnahmen entschied sich der Künstler dafür, mit dem Element Wasser zu spielen, um von der Adoleszenz zu sprechen – einem Alter, in dem die Dinge oft in verschiedene Richtungen rinnen und manchmal auch überschwappen. Fabian Hugos Bilder werden ebenfalls in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift Enjeux pédagogiquesder HEP-BEJUNE veröffentlicht.
Herstellungsjahr: 2019
Die Ausstellung “Fast neu – nur einmal getragen” versammelt Fotos, welche die Fotografin Judith Stadler in einem Zeitraum von drei Jahren im Internet gesammelt hat. Sie zeigen Brautkleider und Hochzeitsaccessoires, die nach dem grossen Tag ihre Bestimmung erfüllt haben und deshalb im Netz zum Verkauf angeboten werden. Verblüffend ist die Tatsache, dass Judith Stadler keines ihrer Fundstücke bearbeitet hat. Die Fotos sind – abgesehen von ihrer Grösse – genau so im Internet erschienen wie sie in der Ausstellung zu sehen sind. Auch die Bildausschnitte sind original. Verblüffend ist das, weil die Bilder in der Masse eine ganz andere Geschichte erzählen als jene, die am Hochzeitstag selbst als gültige Geschichte intendiert war und inszeniert wurde. Anstelle der romantischen Märchenhochzeit mit ihrer Aussicht auf das ewige Glück tritt uns in der Rumpelkammer von ebay und Ricardo unfreiwillig Komisches bis Abgründiges entgegen. In der Absicht, sich selbst zu anonymisieren – warum eigentlich? –, zerkratzen frischgebackene Ehefrauen ihr Konterfei oder schicken sich selbst als kopflose Wesen in den Äther. Das ahistorische Cinderella-Kleid mit tausend Rüschen fliesst über graue Eternitplatten aus dem Gartencenter. Die Anpreisung einer kunstvollen Büste sieht einer Seite im Pornoheft zum Verwechseln ähnlich. Man lacht, wird aber ein blaubart’sches Gruseln nicht los, denn man ahnt schon, dass viele Paare die Fallhöhe zwischen dem Konzept der romantischen Liebe und der Realität eines Alltags zu zweit nicht überstehen werden. In der Schweiz beträgt die Scheidungsrate 51%, Scheidungshauptstadt ist Opfikon im Kanton Zürich. (Nicole Müller)
Herstellungsjahr: 2008-2010
Judith Stadler
Die Serie Extractions setzt sich aus vier Fotografien zusammen. Die beiden Prototypes stellen die Kulisse vor, die sich, wie ihr Titel besagt, atmosphärisch zur Weiterentwicklung und Annäherung sowohl an ähnliche, als auch an gegensätzliche Zustände eignet. Hier sind dies jene des hinter sich Zurücklassens und/ oder des bevorstehenden sich Einrichtens. Das Weitwinkelobjektiv des ersten Prototype (N.E.01) öffnet die Sicht auf ein verlassenes Gelände mit einer Reihe von Gebäuden im Hintergrund, in deren Inneres uns der zweite Prototype (N.E.02) zu projizieren scheint. In einer Annäherungsbewegung tritt der Betrachter zuerst in einen funktionalen Raum ein, wo der gräulich kalte Farbton an die Atmosphäre draussen erinnert; in Sequence (#01) sieht er sich sodann in das grünliche Schimmern eines düsteren Ganges eintauchen, wo eine Gestalt gerade dabei ist, in ein etwas helleres Zimmer einzudringen. Hier setzt die Handlung ein, der Betrachter ist nicht mehr allein, die Orte beleben sich mit der Präsenz von Statisten. Doch kaum mit dieser geheimnisvollen Düsternis angefreundet, führt uns Sequence (#02) wieder nach draussen, mitten in eine Sandlandschaft, bei der es sich um jene des ersten Prototype (N.E.01) handeln könnte.Annaïk Lou Pitteloud verwischt die Spuren und hinterlässt keine Indizien, welche die Annahme oder das Zurückweisen einer solchen Fiktion zulassen. Die stetige Mehrdeutigkeit der Erzählung in diesen Bildern oszilliert zwischen Realität und Fiktion, zwischen Statik und Bewegung, zwischen Schnappschuss und Filmausschnitt. Diese Werke sind charakterisiert durch ein fortwährendes Spiel des Kommens und Gehens. Auf der Ebene von Raum und Zeit scheinen die Orte aufeinander zu prallen, obwohl sie eigentlich durch nichts wirklich miteinander verbunden sind. Und dieselbe Bewegung bestimmt auf der formalen Ebene die Realisierung dieser Werke. Die Herstellung dieser Fotografien verläuft in der Tat über einen langen Prozess der digitalen Montage. Die Künstlerin sammelt Bildserien des Ortes oder der Szene, die sie darstellen will; unter diesen wählt sie dann Fragmente aus verschiedenen Fotografien, und komponiert damit neue Bilder.
Ariane Pollet
Annaïk Lou Pitteloud
Wie der Himmel wild und feindselig erscheint, so dass er bedrohlich wirkt, so erscheinen auch die noch unberührten Landschaften der Serie «Espaces nomades» übernatürlich. Ihre Kolonisierung ist scheinbar unausweichlich. Die noch unberührten und nicht nutzbar gemachten Flächen werden in baldiger Zukunft ohne jeden Zweifel Opfer grosser Veränderungen. Denn der Mensch hat seine Spuren bis in die dichten Tiefen des Regenwaldes hinterlassen und dessen grünen Körper verstümmelt, um seinen Einfluss zu erweitern. Dieses Streben der Zivilisation nimmt hier die Form von Strassen und Wegen an die es ihr erlauben, sich der Natur zu bemächtigen. Es sieht aus, als hätte die Zivilisation die Schlacht gewonnen. Neben urbaner Thematik aus z.B. “Surface” befasst sich Matthieu Gafsou in der Serie “Espaces nomades” kritisch mit dem Verhältnis des Menschen zur Natur. Er inszeniert die Eroberung der beinahe jungfräulichen Landschaften. Dabei definiert Gafsou die Natur als eine Konstruktion, gar als eine Einbildung, um die Möglichkeiten deren Darstellung sowie deren angeblicher Authentizität zu hinterfragen. So spiegeln die Unterwerfung und Aneignung der Natur zu touristischen Zwecken die menschliche Eigenart wieder, in der Natur Ordnung zu schaffen und die Landschaft selbst zu konstruieren. Die unübersehbare, allgegenwärtige Handschrift des Menschen wird in den Arbeiten von Matthieu Gafsou in den Vordergrund gestellt oder subtil kaschiert durch präzise Rahmen und das Spiel mit dem Licht. Ob durch unberührte Landschaften oder durch die zur Nutzung umfunktionierten Flächen, lädt der Künstler zum Nachdenken über den Fortschritt und den hartnäckigen Kampf, die Natur zu erobern, ein. (Yan Schubert)
Herstellungsjahr: 2008
Matthieu Gafsou
Die Zeit einfangen oder die Langsamkeit festhalten und die Bewegung als einen Hauch erscheinen lassen. Andrea Good macht die Zeit sichtbar. Dafür braucht sie keine konventionelle Kamera: Sie baut sich den Fotoapparat vor Ort, eine Camera obscura. Eine Kirche, Verwaltungs- und Bankenbüros, Container, Hotelzimmer oder Industriegebäude – Andrea Good verwandelt diese Räume in Lochkameras und greift auf das Urprinzip der Fotografie zurück. Dafür werden die Räume lichtdicht abgeklebt. Auf der einen Seite drängt der Lichtstrahl in den Raum und projiziert das Bild auf dem Kopf und spiegelverkehrt auf die gegenüberliegende Wand, die mit Fotopapier bedeckt wird. Alles Beständige wird festgehalten, was sich bewegt, wird unkenntlich. Die Schärfe des Bildes hängt von der Bewegung, dem Abstand zum Loch und von der Grösse des Lochs ab. Doch der Faktor Zeit zählt nicht nur beim Entstehungsprozess der Fotografie von Andrea Good. In der eigens für die Bieler Fototage entstandenen Serie von den Vereinigten Drahtwerken Biel interessiert sich die Fotografin für den wirtschaftlichen und städtebaulichen Umbruch. Die Stadt lässt einige Gebäude des alten Drahtwerkes abreissen. Eine Ära geht zu Ende. Um den Abriss zu dokumentieren, baut Andrea Good leer stehende Büros auf dem Areal in überdimensionale Lochkameras um. Andrea Good komponiert ihre Bilder aus Licht, Zeit und Raum. Obwohl ihrer Arbeit genaue physikalische Berechnungen zugrunde liegen, muss sich die Fotografin den Begebenheiten anpassen. So beeinflussen die Lichtverhältnisse die Belichtungszeit, die Windverhältnisse bestimmen das Spiel des Laubes, die Intensität der Bewegungen auf der Baustelle prägt das Erscheinungsbild: Was sich zu schnell bewegt, wird nur flüchtig als Spur oder gar nicht festgehalten. (Marina Porobic)
Herstellungsjahr: 2011
Andrea Good
Die Porträts von Charles Fréger zeigen den Körper oft frontal, in stehender Position, als Ganz- oder Halbporträts. Er erreicht damit eine «Neutralität ihres Ausdruckes». Mittels einer transparenten Lichtführung wird er der jeweiligen Hautbeschaffenheit und ihrer Textur gerecht. Seine porträtierten uniformierten Menschen erinnern durch ihren frontalen Anblick an Porträtdarstellungen aus dem Mittelalter oder der Renaissance. Charles Fréger kann – an Stelle der Hinterfragung von Gesellschaftsnormen – Gegensätze und Widersprüche der Betroffenen aufzeigen, die durch das Tragen von Uniformen unterstrichen oder erst ermöglicht werden. Wenn der Blick zunächst von typisierten Gegenständen wie Kopfbedeckung, Uniform, Waffe, Stiefel etc. angezogen wird, trägt ebenso die Haltung der Portraitierten (Ernsthaftigkeit der Gesichtszüge, die Kopf- respektive Körperhaltung oder der in die Ferne schweifende Blick) bei, den Betrachter ins weite Universum der Darstellung zu tauchen. Dabei bekommt die Künstlichkeit der porträtierten Figuren eine Natürlichkeit zurück, nichts scheint mehr gespielt und reiht sich in Tradition, in Wiederholbarkeit, in Reproduzierbarkeit ein und nimmt damit einen Zug von Zeitlosigkeit an. In den drei hier gezeigten Serien «Empire», «Orange Order» und «Hereros», stellen die porträtierten Personen betont ihre zahlreichen Abzeichen zur Schau, um ihre Gruppenidentität zu demonstrieren, der Einheit den Ausdruck zu verleihen oder gar den politischen Charakter der Gemeinschaft hervorzuheben. Dieses Gefühl der Gruppenzugehörigkeit geht einher mit dem Anschein der Macht. Wenn die Fotoserien «Empire» und «Orange Order» uns in eine aussergewöhnlich reale Welt katapultieren, so wirken die Bilder bei «Hereros» unscharf und uneinheitlich. Wir müssen uns deshalb fragen: in welchem Universum befinden wir uns? Denn zwischen Spiel, Inszenierung und Vorstellung sind die Grenzen fliessend. Charles Fréger sucht in seiner Arbeit genau diese Ambivalenz, dieses «sowohl als auch» auszudrücken: wie überlagern sich Beziehungen zwischen Individuen und sozialen Gruppen und wie setzt man diese sinnvoll in Szene? (Géraldine Delley)
Herstellungsjahr : 2004-2007 / 2007 / 2008
Charles Fréger
Der Preisträger der ersten Ausgabe der Enquête photographique Berner Jura lässt uns eintauchen in den Alltag der multikulturellen Jugend im Berner Jura. Seine fotografische Arbeit, eine Sammlung von Portraits und Landschaften, die auf subtile Weise mit Licht und Schatten spielt, verschafft einen Einblick in verschiedene Geschichten und hinterfragt das Zugehörigkeitsgefühl eines Individuums auf der Ebene seines Umfelds, seiner Herkunft von nah oder fern, seiner sichtbaren oder erträumten Illusionen. Anhand eines subjektiven, dokumentarischen Vorgehens hat sich Pierre-Kastriot Jashari das Ziel gesetzt, das sichtbar zu machen, was in unserer Gesellschaft nur hinter vorgehaltener Hand gesagt, versteckt oder sogar unzugänglich gemacht wird. Er überrascht den / die BetrachterIn mit seinen stillen Bildern schwebender Landschaften, die oft durch eine menschliche Präsenz im Vordergrund verstellt werden.
Die Enquête photographique Berner Jura 2019–2020 wurde in Zusammenarbeit mit dem fOrum culture, der Stiftung Mémoires d’Ici und der Zeitschrift Intervalles lanciert.
Herstellungsjahr: 2019-2020
Abbruchhäuser bilden das Leitmotiv der neun Aufnahmen von «Downtown Corrida». Die subtilen Fotomontagen halten die unausweichlichen Folgen der Zeit auf die architektonische Umgebung fest, die einer ständigen Umgestaltung unterworfen ist. Der Fotograf lässt sich gerne inspirieren von Fotoamateuren, die Häuserzerstörungen aufnehmen. Er testet die durchlässigen Grenzen zwischen der Stadt und ihrer Peripherie: Er spielt mit dem rückwärtsgewandten Blick und hinterfragt dabei die gleichzeitig allgemeine und kategorische Wahrnehmung der urbanen Bauform an den Stadträndern. Der knappe Lebensraum am Stadtrand wurde überbaut mit urban gestalteten Häusern, die unverwundbar schienen; ihr plötzliches Verschwinden, die Flüchtigkeit der Gebäude, die über einen «Stammbaum» und eine gewisse historische Bedeutung verfügten, will gar nicht zu dieser fiktiven Landschaft passen, in die Sozialwohnungen hineingepflanzt wurden. Der metaphorische Titel der Serie übernimmt die Idee des plötzlichen Todes aus der Corrida, dem Stierkampf; die Spannung steigt, man erwartet den Todesstoss, die von Alban Lécuyer raffiniert in Szene gesetzten Implosionen verweisen bewusst auf den finalen «Moment der Wahrheit». Eine zerbrechliche Architektur wird dem Blick durch die brutale Wirkung der plötzlichen Zerstörung entzogen. Der machtlose Zuschauer betrachtet das Spektakel, bei dem ein gemeinsamer Lebensraum zu einem in sich geschlossenen Universum zusammenstürzt. Es bleibt keine Zeit, sich daran zu gewöhnen, einzig der Staub und der Schutt erinnern noch an die vergangene Existenz des Gebäudes; das Gefühl der Entwurzelung macht nach und nach der Normung durch Gebäude Platz, die als neue, ephemere Modelle in den Himmel wachsen. Die Transposition, die der Künstler vornimmt, bringt die konditionierte Haltung, die Menschen gegenüber territorialen Veränderungen einnehmen, deutlich ans Licht.
Herstellungsjahr: 2009-2010
Alban Lécuyer
Unter dem Namen collectif_fact zerpflücken die zwei Künstler Annelore Schneider und Claude Piguet (und bis Ende 2009 auch Swann Thommen) den urbanen Siedlungsraum, fragmentieren ihn und bauen ihn in virtuellen Welten als Videos und digitale Fotografien wieder neu auf. Die sich in unseren Alltag ergiessenden visuellen Reize bilden die Grundlage für ihre Werke, durch die sich die Stadtlandschaft, die darin enthaltene Beschilderung und die Architektur ergründen lassen. Sind die Gesetzmässigkeiten einmal entschlüsselt, werden diese auf verschiedenen Ebenen, zwischen Realität und Virtualität, neu verteilt.
In der sieben Fotografien umfassenden Serie “DOWNtown” von 2008 wird das Stadtzentrum von Genf zum Gegenstand einer eben solchen Dekonstruktion: Die ausgewählten Gebäude umfassen nur noch ein Stockwerk – das oberste. Nach der Verstümmelung werden die Bauten wieder an ihren Platz gesetzt, wo sie unerwartete Verbindungen mit ihrer Umwelt eingehen. Die Räumlichkeit verändert sich – Volumen werden zu Flächen, die Horizontale tritt an die Stelle der Vertikalen und lässt die Umgebung so in einer neuen Konstellation erscheinen, ähnlich amerikanischer Vorstädte. Die auf diese Art entstandene Komposition zeigt eine Verbreiterung von Zweckbauten, die durch überdimensionierte, betonierte Hauptverkehrsstrassen voneinander getrennt werden – eine architektonische Logik, in der Fussgänger nicht vorgesehen sind und wo deren Abwesenheit beinahe bedrückend wirkt. (Géraldine Delley)
Herstellungsjahr: 2008
Le collectif_fact
Die Aufnahmen im Video „Doppelt und dreifach umrundet“ konfrontieren uns mit einer ganz bestimmten industriellen Wirklichkeit. Einmal auf Film gebannt, verändern sich die Bilder zu Skulpturen, deren Dreidimensionalität ausser Kraft gesetzt wird. In eine ähnliche Richtung zielt „Ohne Titel“, ein Karussell aus Holz, Glas und Spiegeln, das seine Umgebung spiegelt und dekonstruiert. Die Installation von Livia Di Giovanna spielt mit der Bewegung, dem Standort des Betrachters – „der Blick wird zum Motor dieser Bilderdestillier-Maschine“[1].
[1] Übersetzung der Pressemitteilung des éspace d’art contemporain (les halles), Pruntrut:
https://www.eac-leshalles.ch/eac/index.php?page=livia-di-givanna(abgerufen am 11.6.2014)
Herstellungsjahr: 2013 | 2014
Im Gliedstaat Andra Pradesh im Süden Indiens steht auf einem mächtigen Hügel der Tempel von Tirumala. Es ist ein Pilgerort, und was für einer: Jeden Tag kommen Zehntausende nach Tirumala, um dem Hindu-Gott Venkateswara zu danken. Es sind meist einfache Leute vom Land, die für Gesundheit, Glück und Arbeit; für das Geschenk der Ehe; für geheilten Krebs, einen geborenen Sohn oder eine reiche Ernte, zuerst stundenlang Schlange stehen und dann Geld oder Gold in den Opferbehälter vor den Schrein von Venkateswara werfen. Und wer zu wenig davon hat, gibt sein Haar. Im Kalyanakatta-Center auf dem Tempelgelände arbeiten 800 Barbiere in drei Schichten rund um die Uhr, um den Pilgern eine Kahlrasur zu verpassen. In vier Minuten entledigt ein geübter Barbier Kinder, Männer und Frauen ihrer Haare – und das kostenlos. Mehrere Tonnen kommen so täglich zusammen; im obersten Stock des wohl grössten Haarsalons der Welt türmt sich das abgeschnittene Haar. “Der Haarberg steht für die pure Liebe der Pilger zu Venkateswara “, sagt der Direktor des Kalyanakatta-Centers, “wir verdienen damit Geld für den Tempel, viel Geld.” Denn von hier aus nimmt die schwarze Pracht seinen kommerziellen Lauf um die Welt, um für medizinische Zwecke nach Operationen angewendet zu werden, um als Echthaarperücken auf dem Haupt von Glatzenträgern und orthodoxen Jüdinnen zu landen oder – und das ist mit Abstand das grösste Geschäft – um als Haarverlängerung Frauen in Europa und Amerika zu verschönern. Allein in der Schweiz lassen sich jedes Jahr gegen zwölftausend Frauen indisches Tempelhaar einflechten. Am Geschäft der Tempel-Manager stören sich die Pilger kaum, denn auch für sie ist das Haarelassen ein Geschäft – sie geben ihr Haare als Dank, und wünschen von Venkateswara insgeheim künftige Segnungen. “Es gibt kaum ein Geschäft, das alle Beteiligten der Verwertungskette gleichermassen glücklich zurücklaÅNsst”, sagt Kishore Gupta, Indiens grösster Haarhändler: “Den Spender in seiner Hingabe zu Gott, den Händler, der davon lebt, und den Träger mit seiner neuen Haarpracht.” (Daniel Puntas Bernet)
Die Ausstellung ist ein Beitrag der Neue Zürcher Zeitung, Zeitbilder.
Herstellungsjahr: 2009
Meinrad Schade & Daniel Puntas Bernet
Die Wissenschaft ist keine abgehobene, unnahbare Disziplin, sondern entspringt der menschlichen Natur, der Leidenschaft und Hingabe, dem Trial and Error und zuweilen auch glücklichen Fügungen. Einen Einblick in die aktuelle Forschungspraxis geben die 680 Arbeiten, welche die Schweizer WissenschaftlerInnen im Rahmen der Ausgaben 2020 und 2021 des SNF-Wettbewerbs für wissenschaftliche Bilder eingereicht haben.
An den Bieler Fototagen werden eine Auswahl davon, die von der Jury ausgezeichneten und im Rahmen einer Publikumswahl gekürten Werke sowie von Witold Langlois (Gründer und Kurator von METEO) präsentierte, mit elektronischer Musik hinterlegte wissenschaftliche Bilder und Videos gezeigt.
Die Preisverleihung und Führung durch die Ausstellung in Gegenwart der UrheberInnen der Arbeiten findet am Donnerstag, 20. Mai, 16 Uhr statt.
In Zusammenarbeit mit des SNF-Wettbewerbs für wissenschaftliche Bilder.
Während der Legislaturperiode 2003–2007, als die rechts-konservative SVP (Schweizerische Volkspartei) durch Christoph Blocher im Bundesrat vertreten war, begleitete Fabian Biasio die Mitglieder und Wähler der Partei im Rahmen eines persönlichen Fotoprojektes. Entstanden ist eine präzise Arbeit mit fast ethnologischem Anspruch: «Ich fühlte mich als Forscher, welcher eine in sich geschlossene Welt erkundet – ein Zirkel, mit dem es sonst praktisch keinen Austausch gibt.» Einen eindrücklichen Blick hinter die Kulissen der offiziellen SVP bieten Biasios Porträts der Parteibasis. SVP-Wähler in den eigenen vier Wänden: Ein Potpourri aus Bauernschränken, Zimmerbrunnen, Spiegel-Fliesen, dunklen Wohnwänden, Hometrainern, bodenständiger Kunst, antiken Puppen und grellbunten Plastik-Vorhängen schlägt einem entgegen. Jedem Porträt ist eine Landschaftsfotografie gegenübergestellt: Die Lieblingslandschaft der abgebildeten Person. Die Dargestellten geben sich betont selbstbewusst, ja trotzig. Unterschwellig kommt jedoch viel Unbehagen zum Ausdruck. Gekreuzte Beine, nicht-ganz so lässig in die Seiten gestemmte Arme. Auch andern orts zeigt Biasio ein feines Gespür für Körpersprache: Ein X-beiniger Ueli Maurer, der mit dem Sturmgewehr in der Hand von einer Servierdüse überrascht wird und in diesem Moment linkisch wie ein kleiner Junge ausschaut – verletzlich, menschlich. Toni Brunner hält sich am Büsi fest, Thomas Fuchs zieht verkrampft die Schultern hoch: Biasios Bilder sind sorgfältig komponiert, und die Momente, die er auswählt, haben nichts Zufälliges. Wenn man möchte, wird man in den Bildern seine eigenen Vorurteile bestätigt finden. Auf Aussenstehende mag einiges skurril wirken, doch hängt dies vom Standpunkt des jeweiligen Betrachters ab. Biasio ist kein Zyniker vom Schlage eines Martin Parr. Er zwingt dem Dargestellten seine Sichtweise nicht auf. Immer hält er eine vorsichtige Distanz zu den Porträtierten und lässt sich zu einem gewissen Grad auf ihre Selbstdarstellungen ein: «Während der Bildauswahl war mir sehr wichtig, dass das Endresultat keine Freakshow sein sollte». Biasio zitiert den Fotografen Alec Soth, welcher darauf verweist, dass man beim Porträtieren sein Gegenüber nie wirklich ‹einfangen› kann: «Wenn eine Fotografie irgend etwas dokumentiert, dann ist es der Raum zwischen mir und dem Subjekt». (Simon Stähli)
Herstellungsjahr: 2003-2007
Fabian Biasio
Für Michel sind Subjekt und Objekt keine festen Entitäten, sodass das eine gerne für das andere genommen werden kann. Der Mensch kann eine Ware sein, wie anderseits Dinge anthropomorphe Züge tragen können. Michel fungiert als Medium in einem Zwischen(be)reich, als (Schutz)engel, (Polter)geist, (Un)wesen. Sie hat ein ausgesprochenes Flair für die Aura von verlebten Dingen wie Spannteppiche, Lampen oder Tapeten, die in ihrem Allerweltscharakter eine Spur Unheimlichkeit aufweisen. Wenn sich Michel in entsprechender Kostümierung in diese leicht abgestandenen, ausrangierten Interieurs mit Haus- und Unrat begibt und sich in einer Art Mimikry für ein Teil dessen hält, füllt sich die Szene mit einer Prise Groteske und Wahnsinn. Die Reduktion des handelnden Subjekts auf seine Unbeweglichkeit und Erstarrung, auf seine Verdinglichung ist jeweils eine fotografische contradictio in adiecto; sie ist eine lebende Puppe, eine anthropomorphe Sache ohne Identität. Der Totstellreflex, der eine theatralische Spielform zitiert, ist auch eine Performance, die eigene Person zurückzunehmen und zu versachlichen, wenn nicht gar zu leugnen. Nur haben wir es nicht mit einem psychischen Defekt zu tun, sondern Michel figuriert ihre Grotesken stets mit kindlichem Humor; wenn sie die Augen schliesst oder die anderen nicht sieht, ist es für sie klar, dass auch die anderen sie nicht sehen.
Fritz Franz Vogel
Chantal Michel
Yann Mingard interessiert sich für Lager zur Konservierung der biogenetischen Vielfalt.
Er wirft darauf gleichzeitig einen ästhetischen wie auch analytischen Blick und bewegt sich geschickt zwischen Dokumentation und Kunstwerk.
Der Fotograf hebt in seiner Serie den paradoxen Charakter dieser Orte hervor. Um das Leben zu schützen, wird eben dieses in Behältern eingeschlossen, die wiederum in gewaltigen, abgeschotteten Bunkern gelagert werden. Die unzähligen Kornproben, die sich an diesen kalten und nüchternen Aufbewahrungsorten befinden, stehen im Zentrum des Interesses des Fotografen. Die anderen Elemente, die diesen einmaligen Ort ausmachen, werden dabei nicht vernachlässigt: die Fassaden der Gebäude und deren Umgebung sind genauso eingefangen wie die Innenräume und das Treiben der Menschen darin. Der Gesamteindruck wird dem Betrachter zur freien Beurteilung vorgelegt.Diese erste Serie ist Teil des Langzeitprojektes “DEPOSIT”. Bis 2012 soll ein fotografischer Corpus entstehen, das verschiedene Lager des genetischen und digitalen Erbes der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts dokumentiert. Dabei soll über die Zeit, die Zukunft der Gesellschaft und die Ängste, die diese zur Konservierung aller möglichen Güter anspornt, nachgedacht werden. (Camille Prenez)
Herstellungsjahr: 2010
Yann Mingard
Michael Fent thematisiert in der Serie «Days have Numbers» die Vergänglichkeit, den Tod. Dafür porträtierte der Fotograf drei Personen. Einen Hauch ihrer Lebensgeschichte erzählen die von den Porträtierten dazugelegten persönlichen Gegenstände, ohne jedoch zu viel zu verraten. Peter ist ein vom Leben gezeichneter Mann. Die Fotografie seines Vaters ist das einzige Zeugnis seiner Vergangenheit und lässt vermuten, dass er keine Familie hat. Einsam wartet er auf den Tod. Jonas ist ein junger Theologiestudent im Priesterseminar und reflektiert in einem Essay den Tod. Ihn beschäftigt die Frage des Danach. Gibt es ein Leben nach dem Tod? Und schliesslich Matthias. Als er 15 Jahre alt war, starb sein Vater an Krebs. Vier Jahre später kam die Mutter bei einem Unfall ums Leben. Die Geburts- und Todestage seiner Eltern notierte Matthias auf einem Notizpapier. Der Tod zeichnet sich in unserem Alltag in verschiedenen Facetten ab, im Alterungsprozess, als metaphysische Dimension oder als persönliche Tragödie. Neben den Porträts und Objektfotografien runden Landschaftsbilder jede Einheit ab. Diese melancholischen Aufnahmen abgestorbener Bäume im Morgengrauen verstärken die Dramatik des Themas und spiegeln die Empfindungen der Männer wieder und erzeugen eine schwermütige und postapokalyptische Atmosphäre. In der Auseinandersetzung mit dem Tod schwankt Michael Fent von der Poesie und Abstraktion zur Dokumentation. Einerseits zeigt er Menschen, die auf unterschiedliche Weisen mit dem Tod und der eigenen Sterblichkeit umgehen. Sie sehnen sich nach dem Tod, sehen ihn als Erlösung oder als Teil eines grösseren Ganzen oder akzeptieren ihn als Begleiter im Leben. Andererseits vermittelt er poetisch die Endlichkeit des Lebens durch die Naturbilder. (Marina Porobic)
Herstellungsjahr: 2009
Michael Fent
Die Arbeit von David Willen ist geprägt durch einen seriellen und repetitiven Prozess. Während der Dauer eines Jahres wird jeden Morgen – mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage – systematisch die erste ausgetrunkene Tasse Kaffee aufgenommen. Installation und Beleuchtung bleiben immer gleich, die Aufnahme wird mit einer Grossformatkamera (4×5 inches) und auf Polaroidfilm gemacht. Ist das Foto einmal entwickelt, wird es über dem Haupttitel der Neuen Zürcher Zeitung des jeweiligen Tages plaziert. Die 303 Bilder der Serie, die so entstanden sind, werden sorgfältig chronologisch archiviert. Die Arbeit weist gewisse Parallelen auf zum konzeptuellen Werk von On Kawara und seiner Bilderserie «Today Series», die am 4. Januar 1966 gestartet wurde (monochrome Bilder, auf denen einzig das Datum zu sehen ist, an dem das Bild entstanden ist). David Willen reiht sein Werk in eine künstlerische Tradition ein, die weniger in der Fotografie als vielmehr in der Bildenden Kunst bekannt ist. Während allerdings die Arbeit seines japanischen Kollegen stärker auf sich selbst bezogen ist, verfolgt die Serie «Das Ende der Sorglosigkeit» einen weniger persönlichen und universelleren Ansatz. Die penibel genau in Szene gesetzten Bilder des Fotografen sind das Resultat von Überlegungen zu den verschiedenen Zeitschichten und – spannen, die in der Serie dargestellt werden. Die Annäherung von Text und Bild materialisiert die abstrakten zeitlichen Vorgaben und schafft gleichzeitig neue. Während sich die Titel in der Neuen Zürcher Zeitung auf die in den Medien vermittelte Zeitgeschichte 2008–2009 beziehen und Ereignisse wie die Wirtschaftskrise erwähnen, zeigt das Polaroidbild den einzigen, immer gleichen Moment. Die Spuren des Kaffees auf den Tassen erinnern natürlich auch und unumgänglich an die uralte Tradition des Kaffeesatzlesens. Ist letztlich nicht auch die ganze Serie eine Frage des Satzlesens?
Herstellungsjahr: 2008-2009
David Willen
Während ihres Aufenthalts in Mexiko erfährt Emmanuelle Bayart die Komplexität eines Landes, das immer noch hin- und hergerissen ist zwischen seiner ursprünglichen Herkunft und den Einflüssen der spanischen Eroberer. Die Fotografin versucht, die Mexikaner, ihre Kultur, ihre Geschichte besser zu verstehen. Eine entscheidende Erfahrung macht sie in der Metro von Mexico City, in der Station Tacubaya, wo sich eine Wandmalerei mit der Darstellung der präkolumbianischen Kultur befindet. Um ihre Kenntnisse über das Wesen der Mexikaner zu vertiefen, deren individuelle und kulturelle Identität besser zu erfahren, steigt sie in der Zeit zurück bis zu den präkolumbianischen Wurzeln – und sie steigt hinab in die Metro und irrt auch hier durch unterirdische Gänge.So wird uns auch ein neuer Blick auf die Metro als Lebensraum ermöglicht. Die übervölkerten Orte des Vorbeieilens verunmöglichen Momente der stillen Betrachtung. Bayart hat gewartet, bis sich der Strom der Reisenden verringert und dem Dekor Platz lässt.
In “Ode au métro de Mexico” nähert sie sich dem einzelnen Menschen, dem Individuum, noch mehr und gelangt in intime Räume dieser unterirdischen Welt. Sie sucht die Begegnung mit Metro-Angestellten, porträtiert sie, zeigt ihre Arbeits- und Ruheorte. Die Ruhe und die Intimität dieser Orte stehen in starkem Kontrast zu den Strömen der Passagiere, die durch die Gänge fluten.
Vom Grösseren immer weiter gegen das Kleinere voranschreitend, eröffnet uns die Künstlerin neue Aspekte der Geschichte, der Gesellschaft, der Metro und schlussendlich des einzelnen Menschen. (Noémie Richard)
Herstellungsjahr: 2008
Emmanuelle Bayart
“Ah, Da bist Du ja, mein Sohn!”
Lucia erhebt sich, und umarmt einen gut aussehenden Mann um die Dreissig. Fernando hat einen Bart und lange Haare.
Die Zärtlichkeit, mit welcher die kaum 16-Jährige diesem doppelt so alten Mann begegnet, verwirrt.
“Wie geht es Dir, mein Kind?”
Fernando trägt Turnschuhe und verwaschene Jeans; von Beruf ist er Ingenieur bei Teflon Mexico. Er spielt bereits zum dritten Mal den Christus und kennt die Rolle in- und auswendig. Zwei Tage vor den Feierlichkeiten musste er unvermittelt einspringen, denn der Mann, den das Komitee ursprünglich als Jesus ausgewählt hatte, war den aussergewöhnlichen Ansprüchen der Rolle nicht gewachsen. Fernandos Leben ist nicht mehr dasselbe, seit er das erste Mal ans Kreuz genagelt wurde. Sobald er im Dorf sein Gesicht zeigt, wird er zu allem Möglichen um Rat gefragt. Einige bekreuzen sich sogar, wenn sie ihn vorbeigehen sehen. Es ist schön, sich wiederzusehen. Fernando möchte die Fotos von sich als Jesus sehen, die im letzten Jahr entstanden sind. Für mich werden die Bilder – bereits zum fünften Mal – die Eintrittskarte sein, dank derer ich an den Feierlichkeiten und am Umzug teilnehmen darf. Lucia (welche die Jungfrau Maria spielt), Pontius Pilatus, die Henkersknechte, und viele andere mehr stürzen sich auf die Bilder der letztjährigen Passion. Ich muss mit sanfter Bestimmtheit eingreifen, damit alle einen Abzug ihres Bildes erhalten.
Von den drei Männern, die ich bisher als Jesus fotografiert habe, ist Fernando der charismatischste, und jener, der die Rolle am überzeugendsten ausfüllt.
Das neue Komitee der Festspiele scheint strenger mit den Fotografen umzuspringen – mehr und mehr von ihnen möchten jedes Jahr dem Umzug beiwohnen, in der Hoffnung, von dem bunten Bilderreigen (auch finanziell) zu profitieren. Wenigstens werden bis jetzt noch keine Modellfreigabe-Verträge verlangt.
Dieses Jahr werden wir zu zweit arbeiten: Zwei Blickwinkel auf eine Passion. Ganz aufgeregt sind wir, in der Erwartung, wieder Christus hinterher zu rennen, der selbst seinem sicheren Ende entgegen schreitet. Wir möchten etwas von den intensiven Emotionen einfangen, welche durch diese kollektive Katharsis geweckt werden.
Herstellungsjahr: 2005
Francis Traunig & Nicolas Righetti
In Cromofobia (2007) entfärbt Tagliavini seine akkurate Szenerie, und zwar nicht digital, sondern analog, was bei weitem mehr zu tun gibt. Der fiktive Plot einer farbenfürchtigen Frau, so der Titel, lässt über die Buntheit der heutigen Welt philosophieren. Die Entfärbung der heilen Welt, die Reduktion der farblichen Kontraste und die Varianz der Grautöne erinnern an eine Zeit, in der noch mehr Staub und Dreck in der Luft lagen als heute. Die Dezenz der Farben im Verbund mit dem knalligen, Angst einflössenden Gegenstand ist lediglich ein formales Element, um das ursächliche Objekt der Phobie besonders kenntlich zu machen. Im angelsächsischen Modestil der frühen 1950er Jahre gekleidet, verweist die Serie nämlich auf die Angst, Neues ins Haus kommen zu lassen. Die Blässe ist also auch eine Metapher für den antriebslosen, abwartenden Zeitgeist, nämlich nicht aufzufallen, sozusagen bescheiden in der Kulisse zu verschwinden. Ein zweites Indiz, dass die krankhafte Furcht eigentlich kuriert werden sollte, liest sich von den roten Lippen. Sie reden zwar noch nicht offensichtlich, doch ist eine Binnenkommunikation mit dem Corpus delicti hergestellt.
Fritz Franz Vogel
Christian Tagliavini
Mit dem Projekt “Box” (2008), eine Diplomarbeit, die sie an der Ecole Cantonale d’Art de Lausanne verfasst hat, illustriert die junge Fotografin Anja Schori die verkannte und in den Medien wenig verbreitete Welt des Frauenboxens. Es ist eine Welt, die nicht die legendäre Geschichte oder den selben Medienerfolg kennt, wie diejenige der berühmten Namen eines Primo Carnera, Rocky Marciano oder Mike Tyson. Um die verschiedenen Aspekte und Facetten des Frauenboxens darzustellen, wirft Anja Schori mal einen intimen und direkten mal einen glamourösen und sinnlichen Blick darauf. Ob ein Porträt eines vom harten Training noch schwitzenden Gesichtes mit grün leuchtenden Augen, ob eine Faust, die zum entscheidenden Schlag ausholt, ob ein in den Kampf steigender Körper, die Fotografien zeigen Boxklischees mit strotzender Energie, eiserner Entschlossenheit und einer unbestreitbaren Sinnlichkeit. Der Notwendigkeit oder einer Absicht folgend benutzt die Fotografin sowohl Analog- wie Digitalkamera, ihre M6 oder eine analoge Kompaktkamera. So kommt es, dass sich ein anspruchsvoll kontrastreicher Abzug eines Porträts, eine Schwarz- Weiss-Serie eines Trainings, eine grobkörnige Abbildung eines entschlossenen Blickes oder eine Reihenfolge absichtlich unscharfer Fotografien eines Kampfes kontinuierlich abwechseln; wie mühsame und unbarmherzige Abfolgen von Schlägen oder aber wie rasche, geschickte Oberkörperbewegungen.Roland Barthes bemerkte in “Mythen des Alltags”, dass jeder Boxkampf mit dem Ringen etwas Schwülstiges und hoch Spektakuläres teile — man brauche nur an die mediale Aufregung, welche der Kampf zwischen Ali und Foreman in Kinshasa auslöste, zu erinnern oder der erbarmungslosen Herausforderung; körperliche Gegenüberstellung, die gleichviel Erotik wie Heroismus beinhaltet, in dem sich die Kämpfer stets ausweichen und nähern, um schlussendlich den Gegner k.o. zu schlagen. Ursprünglich als Trauerspiel zu Ehren der Kriegsopfer von Homer in der “Ilias” (XXIII) beschrieben und seit 668 v. Chr. eine olympische Disziplin, hat der Faustkampf von Beginn an eine mythische Bedeutung, die in den heutigen Arenen fortbesteht. In dieser ausschliesslich männlichen Mythologie haben die Frauen lange nur eine nebensächliche Rolle als Frauen / Bilder gespielt, Objekte, die vor einem begeisterten und erregten Publikum zwischen zwei Runden ausgestellt wurden.
In dieser von Testosteron regierten Welt lässt Anja Schori die Boxerinnen zu Wort kommen – und diese haben da ganz sicher etwas zu sagen. Nahaufnahmen, die vom vergangenen harten Training zeugen, wie die eines alten ledernen Boxhandschuhs oder eines in einer Ecke gelassenen Punching Balls, werden intimen Aufnahmen von liegen gelassener Unterwäsche aus dem Umkleideraum gegenübergestellt. Es gefällt Anja Schori mit der Kriegssymbolik zu spielen und die Bilder, die unter verschiedenen Formen in der männlichen Phantasie existieren, subtil und mehrdeutig zu verfremden: Schwarz-Weiss-Porträts, die an prächtige Pinups der 50er Jahre-Zeitschriften erinnern, sexy und leicht angezogene Frauen, die ihre sinnlichen und energischen Körper dem Objektiv anbieten wie Mannequins während eines Mode-Shootings, vor allem aber Sportlerinnen, die sich mit einer exemplarischen Entschlossenheit in einer nostalgischen und deutlich patriarchalischen Welt durchsetzen. Die wenigen fotografierten Männer erfüllen dabei oft nur Nebenfunktionen und spielen paradoxerweise marginale Rollen.
Die unterschiedlichen Bilder variierender Formate folgen sich in einer vielseitigen und absichtlich edlen Publikation, die an Glanzzeitschriften mit perfekten Werbeklischees und gleichzeitig an Dokumentarfotografie erinnert. Dank dem raffinierten Layout, das den Leser und Betrachter zu einer rhythmischen und dynamischen Lektüre einlädt, situiert sich diese Arbeit von Anja Schori zwischen Dokumentar- und Modereportage. Umso mehr, als der typografischen Bearbeitung, die an Zitate aus Reportagen in Glamourzeitschriften erinnert, eine grosse Wichtigkeit beigemessen wird. Die sozialen Aspekte der Sportart und die deutlich ästhetisierenden Aspekte der Modefotografie wechseln sich gegenseitig ab und werden dank geschickt gewählten Formaten und Bildausschnitten konfrontiert. Anja Schori geht in ihrem Anliegen ungezwungen mit den Codes um und verwirft herkömmliche Vorgehensweisen – Schwarz-Weiss für den Dokumentarstil und grelle Farben für Modefotografie. Stile und Grenzen werden verschwommen, um neu und bedeutend unbeständiger definiert zu werden. (Patrick Gosatti)
Herstellungsjahr: 2008
Anja Schori
In der Tradition von Fischli/Weiss haben Cortis/Sonderegger angefangen, indem sie absurden Astronautenalltag mit Gemüse inszenierten oder einen den Mond anheulenden Wolf aus Hackfleisch fertigten. Ihre Serie Blitztiere (2007) thematisiert die Fotografie, indem die Fotografen ihr Equipement, Lichtwannen und Blitzlampen, so arrangieren, dass daraus (Wild)tiere entstehen, als wären diese nächtlicherweise in eine Fotofalle getappt: schöne Alpträume. Dass es den Fotografen die dunklen und irrationalen Seiten des Lebens angetan haben, zeigt auch die Beschäftigung mit Übungsplätzen, Versuchsräumen, Laboratorien, Simulationsräumen, Crashtests und dergleichen. Die Aufnahmen halten stets die Schwebe zwischen Fiktion und Dokumentation. Es ist oft nicht mehr ersichtlich, ob die Realität so absurd oder die Fiktion schon so real ist. Für ihre Bilder Angst (2007) operieren sie mit dem Schwindelgefühl, gleichsam eine Fortsetzung in Form eines Labors für psychische Verhaltensweisen. Der Betrachter wird förmlich durch den Boden in den Strudel mitgerissen; allein die Betrachtung stört den Gleichgewichtssinn und löst ein unbequemes Panikgefühl, in die endlose Tiefe zu fallen, aus. Der Transfer vom Bild, das Angst der dar-gestellten Person zeigt und herstellt, überträgt sich durch die Betrachtung auch auf den Rezipienten. Damit diese Übertragung gelingt, muss die Fotografie in ihrer Direktheit und Klarheit stimmen.
Fritz Franz Vogel
Jojakim Cortis & Adrian Sonderegger
Die Arbeiten von Cottenceau/ Rousset präsentieren sich als raffinierte und authentisch fotografierte Inszenierungen. Sich von verschiedenen Situationen, Kollaborationen, der Freude auch an Brüchen, Verschiebungen und an Nonsens ganz allgemein inspirieren lassend, erfindet sich das Duo in ihren kleinen Rahmengeschichten immer wieder neu. Ihre Ideen materialisieren sich dabei in sehr sorgfältig aufgebauten Konstruktionen. In einigen Fällen werden wir beinahe zur Annahme verführt, die beiden übten sich im Ausstopfen von Tieren und stellten nun ihre unvollendeten Präparate dem Betrachter vor. Stühle, Tische, Matratzen, Leintücher, Decken, Kissen, Abfallsäcke, Bock-Gestelle, Bretter und Kartons dienen ihnen als Grundstock von Arbeitsmaterialien. Nur zwischendurch fügen sich die Fotografen auch selbst in die Kompositionen ein. Der in dieser Weise zusammengestellte Elefant erscheint uns so, als würde er im nächsten Moment losmarschieren. Die Struktur des ausgestopften Matterhorns (Cervin) erkennt man sofort und der Berg erscheint uns auch hier als bereits wahrhaft lebendig. Andernorts dienen die Kleider von Modeschöpfern dazu, einen Beduinen in den Sattel zu heben oder einen exzentrischen Bergler als genialen und zugleich auch völlig lächerlichen Helden posieren zu lassen. Auf ähnliche Art und Weise wird uns mit Bernhardo auf seinem irrwitzigen Reittier eine weitere Phantasie präsentiert und werden die Portraits von Igor und Jeannette und jenes des schwelgerischen Molux geformt. Folgt man den Geschichten weiter, treffen wir auf einen verletzten Don Quichotte (alias Bill), der ganz einfach auf seinem Elefanten reitet, wo sich andere bei diesem Anblick eher an den aus Indien zurückkehrenden d’Artagnan erinnert fühlen mögen. Im Rahmen der Serie La Bénichon (2006), in welcher das üppige Menü des traditionellen Freiburger Erntefestes illustriert wird, findet sich einer dieser übermütigen Gäste voll gestopft (mit Kissen) wieder und die ziemlich komische, als Tausendfüssler gruppierte Tafelrunde intrigiert unseren Blick nicht weniger als ersterer. Handelt es sich hier um einen grotesken Marienkäfer oder doch eher um eine zweckentfremdete Meringue? Letztendlich spielt das wohl keine grosse Rolle! Diese Fotografien erzählen nicht nur eine Geschichte, sondern laden dabei lustvoll sowohl zum Weiterspinnen der verschiedenen Phantasien, als auch zur akademischen Analyse ein. — Geoffrey Cottenceau et Romain
Manuela Lienhard
Geoffrey Cottenceau & Romain Rousset
Robert Huber präsentiert uns eine Serie von Porträts, welche in einer ganz einfachen Form gehalten sind: klassische Büsten in einem Querformat, die Mehrheit der Gesichter sind frontal abgebildet. Keine Inszenierung, nichts Überflüssiges; ein schwarzer Hintergrund, die Nacht, als einziger Schmuck. Dass die Konstruktion der Bilder so einfach gehalten ist, liegt vielleicht darin begründet, dass das Thema alles andere als einfach ist. Die Fotografien von diesen Transsexuellen verunsichern uns. Sie verwirren uns, da sie uns unausweichlich auf unsere eigene sexuelle Identität verweisen. Wie würde es sich anfühlen, körperlich, gefühlsmässig, wenn ich ein Mann / eine Frau wäre? Was sind die maskulinen und femininen Anteile in mir? Von diesem Ausgangspunkt wird es spannend, wie bei allen Serien, vom ersten Blick aus weiterzugehen und die Gesichtszüge zu vergleichen, welche bei der einen harmonischer sind als bei der andern, die Augen, die Mundformen oder die Kleidung. Dafür muss man sie jedoch in ihren Kontext zurückführen. Diese Fotografien sind in Beyoglu aufgenommen worden, dem Vergnügungsquartier von Istanbul, welches den modebewussten westlichen Hauptstädten in nichts nachsteht. In dieser Stadt gehen Schleier und Mini-Jupe nebeneinander her, der Souk liegt unmittelbar neben Fashion Stores und das Nachtleben von Beyoglu wird von den strengen Rufen des Muezzin zum Gebet unterbrochen. Auch wenn die westliche Kultur im Istanbuler Leben einen wichtigen Platz einnimmt, ist die Mentalität immer noch eher traditionell. Zwischen 1980 und 1990 waren die Transsexuellen noch Opfer von polizeilicher Verfolgung. Selbst wenn die Gesellschaft seither toleranter geworden ist, bleiben die Transsexuellen Randständige. Da sie keine regelmässige und stabile Arbeit finden, arbeiten die meisten im Sexgewerbe. Was für ein Leben verbirgt sich also hinter diesen Gesichtern? Welcher Alltag? Was sind ihre Sorgen? Welche Zukunft erwartet sie im Rahmen dieser Gesellschaft? (Carine Steiner)
Herstellungsjahr : 2005
Robert Huber
Die Bildserie Autour von Olivier Culmann wurde 2003 mit dem Roger-Pic-Preis der “Société civile des auteurs multimédia” ausgezeichnet. Sie ist im Rahmen von vier Reisen nach New York zwischen 2001 und 2002 entstanden und wagt einen neuen, “anderen” Blick auf die Ereignisse von 9 /11. Über das historische Ereignis hinaus wurde am 11. September 2001 eine neue (Bild-)Grenze überschritten: Indem die Fähigkeit zur unmittelbaren und weltweiten Verbreitung von Bildern, zu der die Kommunikationsmittel des 21. Jahrhunderts in der Lage sind, bis zum äussersten genutzt wurde, wurden die Grenzen wie nie zuvor von der Realität in Richtung Fiktion verschoben. Das Bild des Flugzeugeinschlags ist im engen Wortsinn derart unglaublich, dass es eher einem Katastrophenszenario zuzuordnen ist als der Wirklichkeit. Man kann das Bild endlos oft auf allen Bildschirmen zeigen, es bleibt dennoch unfassbar. Vielleicht ist es diese Art, mit der die Wirklichkeit überholt wird, oder die absolute Genauigkeit, mit der die Fiktion eingefangen wird, die bewirkt, dass die Wirklichkeit wie aufgehoben erscheint.Um nicht nur das Ereignis selbst zu erfassen, sondern auch das, was es in uns auslöst, dreht Culmann dem Ereignis den Rücken zu. Im Gebiet um Ground Zero fotografiert er von den Trümmern weg, er fotografiert jene, welche die Trümmer betrachten und verlagert so den Schwerpunkt der Aufmerksamkeit. Absorbiert von dem, was sie sehen, werden die Zuschauerinnen und Zuschauer zum Reflex, zur Verkörperung. Mehr noch: Vor der Leerstelle, welche die Türme des World Trade Centers zurückgelassen haben, werden sie zu Trägerinnen und Trägern des Sinns, welcher dem Ereignis innewohnt. In ihren Gesichtern liest man Schrecken und stumme Faszination, aber auch die mannigfaltigen Zweifel, welche Amerikanerinnen und Amerikaner in der Folge erfasst haben. (Anne Froidevaux)
Herstellungsjahr: 2001-2002
Olivier Culmann
Der sowohl in der Werbefotografie und für Zeitschriften als auch als künstlerischer Fotograf tätige Julian Salinas thematisiert in der Serie «Am Tag davor» das menschliche Gesicht. Das Porträt bildet einen wichtigen Bestandteil seiner Arbeit, fotografiert er in seiner Funktion als Magazinfotograf doch auch in der Öffentlichkeit bekannte Personen wie etwa Iggy Pop, Pipilotti Rist oder den Sänger Moby, aber auch unbekannte Menschen. In «Ordinary World» (2004–2005) hoffen Letztere, aus dem Alltag ausbrechen zu können und durch die Integration in bestimmte Gruppen an Wichtigkeit zu gewinnen, und in «Am Tag davor» sind sie dem gewohnten Alltag enthoben durch das, was sie in und mit ihrem Gesicht ausdrücken. Jede der elf abgebildeten Personen wird aus derselben Perspektive (Porträt bis auf Schulterhöhe) und vor neutralem Hintergrund aufgenommen. Sie unterscheiden sich aber voneinander durch ihren speziellen Gesichtsausdruck. Sie befinden sich alle in derselben Situation: nämlich vor einer wichtigen Entscheidung oder einem Aufbruch zu unbekannten Ufern. Die Unveränderlichkeit des fotografischen Bildes ermöglicht es dem Künstler, den präzisen Moment «einzufrieren», in dem sich die Emotion auf dem Gesicht der Porträtierten zeigt. Die emotionale Intensität ist allerdings so stark, dass sie diesen Augenblick transzendiert und ihm Dauerhaftigkeit verleiht. Julian Salinas bringt es fertig, das Bergson’sche Gegensatzpaar technische, messbare Zeit und Dauer/Temporalität des Bewusstseins in Einklang zu bringen1. Die fotografierten Personen sind zum Zeitpunkt der Aufnahme zwar anwesend, gleichzeitig aber auch abwesend, weil sie aufgenommen wurden, als sie durch ihre Gedanken und Gefühle wie an einen anderen Ort versetzt wirkten. Am Schnittpunkt zwischen einem gegebenen Punkt auf der Zeitachse und der Dauer, die diesem Punkt innewohnt, zeichnet sich eine dritte Zeitschicht ab: die Zukunft. Das Kameraobjektiv von Julian Salinas fängt die Unsicherheit, die von der Zukunft ausgeht, subtil ein.
Herstellungsjahr: 2006-
Julian Salinas
Das Kollektiv Das doppelte Lottchen verdankt seinen Namen dem berühmten Kinderbuch des deutschen Autors Erich Kästner. Das Kollektiv setzt sich aus zwei Bieler Künstlerinnen zusammen, die in ihrer Serie «47° 14′ 20″ N, 7° 2′ 48″ 0» anhand von wegweisenden Werken der Kunstgeschichte Zeitreisen unternehmen. Der Name der Arbeit bezieht sich auf die geografischen Koordinaten des Ortes im Jura, an dem die Bilder aufgenommen wurden. Die zwölf Bilder der Serie sind aus der Überlagerung eines bekannten Werkes und einer Fotografie entstanden. Die Kombination der Bilder erlaubt es den Künstlerinnen, ausgehend von einem allseits bekannten Bild, eine neue Fiktion zu erschaffen. Das Bild des Meisters der Schule von Fontainebleau «Porträt einer Dame bei der Toilette» (Ende 16. Jhdt.) oder auch «Thronende Madonna mit dem Christuskind» aus dem Diptychon von Melun von Jean Fouquet (1450–1455) wird so für eine künstlerische Arbeit wiederverwendet, die Fotografie und Malerei kombiniert. Auch wenn die Überlagerung der Bilder gewisse Elemente verwischt und neue hervorbringt, so bleibt doch das weibliche Sujet zentral. Die Serie konfrontiert Figuren aus älteren Werken mit heutigen weiblichen Figuren, die in den Bildern «eingebaut» werden. Die Zusammenstellung nähert zudem die verschiedenen Dekors und vor allem die verschiedenen Zeitschichten und Epochen einander an. Die Szenerien sind in bleiche Farbtöne getaucht, die eine neblig-traumhafte Atmosphäre schaffen. Am Schnittpunkt zwischen Fotografie und Malerei, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, aber auch zwischen historischer Fiktion und geografischer Wirklichkeit nimmt die Serie die Betrachter mit auf eine veritable Reise in die Zeit und in die Kunst.
Herstellungsjahr: 2011
Das doppelte Lottchen
In den Tausenden von Schweizer Labors entstehen täglich Bilder. Bilder aus makroskopisch kleinen Welten, als Resultate von Experimenten, als Beweise einer These. Es sind aber auch Bilder, welche die Schönheit und die Faszination der Forschung zeigen.
Zum zweiten Mal hat der Schweizerische Nationalfonds (SNF) daher den Wettbewerb für wissenschaftliche Bilder 2018 durchgeführt und Forschende an Schweizer Hochschulen aufgefordert, die spannendsten Bilder der vergangenen zwölf Monate einzureichen. Aus über 350 Bildern hat eine international besetzte Jury die besten Bilder ausgewählt. Die preisgekrönten Bilder und Videos werden an den Bieler Fototagen präsentiert.
In Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF).
Sich in Szene setzen, etwas inszenieren, phantastische, surreale Realitäten entstehen lassen: Ein Körper verwandelt sich zu einem formalästhetischen Fragment, Utensilien aus Frauenhandtaschen fingieren einen Tatort, die Natur mutiert zum Wohnzimmer, allzu menschliche Tiere halten uns den Spiegel vor, Landschaftsmodelle irritieren, visualisierte Schönheiten verblüffen, scheinbare Welten treffen aufeinander, zwielichtige Gestalten lassen sich ertappen, gestellte Partyszenen stellen Sinnfragen, Ephemeres wird verewigt, Vergangenes wird vergegenwärtigt, Kleider installieren Räume, Barcodes signalisieren Strassenquerungen – Lebensräume, Identitäten werden getarnt, Frauen werden geheiligt, Bilder werden inszeniert, Rehkitz-Kinderstuben werden ins Licht gerückt, im Wechselspiel zwischen Fotografie und Bleistift entstehen neue Räume, Plastik-Landschaften hinterfragen Massstäbe, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Motive, Aufnahmetechniken werden zu Experimentierfeldern von Rhea, Kaspar, Ueli, Aline, Selina, Gina, Marc, Litta, Banu, Mischa, Niklaus, Remo, Cornel, Remo, Daniel, Eve, Baptiste und Miro. Die inszenierte Fotografie als übergeordnetes Thema der diesjährigen Bieler Fototage erfährt durch die Arbeiten der Lernenden der zweiten Grafik Fachklasse der Schule für Gestaltung Bern und Biel in Biel eine facettenreiche Interpretation. 18 einzigartige eigenständige Arbeiten zeugen von einer hohen Kreativität und veranschaulichen die Breite und mögliche Tiefe des Themas. Analoge und digitale Welten treffen aufeinander. Symbiosen, Verschränkungen von moderner Technik mit traditionellem Handwerk erzeugen Effekte, die sich auf den Inhalt der Arbeiten beziehen. Scheinbar Zufälliges ist sorgfältig geplant. Die Ideen erhalten durch die Inszenierung und technische Umsetzung eine starke Präsenz. Sie greifen verschiedene gesellschaftliche Phänomene auf, irritieren, provozieren, regen zum Denken an. Objekte werden vermenschlicht. Heile Welten werden hinterfragt, Betrachtenden eröffnen sich vielfältige Assoziationsräume.
Alfred Samuel Maurer
Schule für Gestaltung Bern und Biel
Seit über dreissig Jahren setzt sich Heini Stucki in der Tradition der “Alltagsfotografie” mit den Menschen und Landschaften, zum Beispiel des Berner Seelands, auseinander, welches er auf der Suche nach seinen Motiven zu Fuss mit einer Leica durchwandert. Ob er nun die Mäusefänger, Menschen im Rollstuhl, die Berner Broncos, Sans-Papiers oder den Schriftsteller Gerhard Meier porträtiert: energisch engagiert, aber stets durchgestaltet sind Stuckis Bilder dem Verdrängten, Bedrohten und Schwindenden auf der Spur. Stucki fotografiert nach wie vor überwiegend schwarzweiss und hängt seine selbst in der Dunkelkammer hergestellten Abzüge an der Wäscheleine zum Trocknen auf; Fotografie ist für ihn ein Mittel des Dialogs mit unbekannten Menschen, und aller immer wieder in seinen Bildern auftauchender Melancholie zum Trotz liebt er die Situationskomik im Alltag. (Christian Fürholz)